„Der Trend geht zur Kontextualisierung“
Interview mit Christof Lorenz, Director Market Development Germany bei Bentley Systems, über digitale Entwicklungen im Infrastruktur-Bau
Welche technologischen Trends sehen Sie derzeit für Infrastruktur-Baumaßnahmen als besonders prägend – und wie reagiert Bentley darauf?
Christof Lorenz ist Director Market Development Germany bei Bentley Systems
© Bentley Systems
Christof Lorenz: Ein zentraler Trend ist die zunehmende Verschmelzung von Geodäsie, GIS und Bauwesen. Früher war die Disziplin Vermessungswesen eher getrennt vom klassischen Bauingenieurwesen– heute wachsen diese Disziplinen über gemeinsame Modelle und Datenflüsse zusammen. Das, was wir von Building Information Modelling (BIM) kennen, vernetzt sich immer stärker mit Geo-Informationsmodellen. Projekte entstehen nicht mehr auf der sprichwörtlichen „grünen Wiese“, sondern immer im räumlichen Kontext: Gelände, Untergrund, bestehende Infrastruktur, Nachbarbebauung.
Ich nenne das den Trend zur Kontextualisierung. Planen, Bauen und Betreiben von Anlagen oder Bauwerken funktioniert künftig nur, wenn der gesamte räumliche und infrastrukturelle Zusammenhang digital abgebildet ist.
Wie lässt sich dieser Kontext technisch erfassen?
Christof Lorenz: Durch Technologien wie Photogrammetrie, LLIDAR und Drohnenaufnahmen. Heute kann jeder mit relativ einfachen Mitteln – selbst mit einem Smartphone – hochauflösende 3D-Modelle der Bestandsumgebung erzeugen. Unsere Software verarbeitet überlappende Fotos zu Punktwolken und automatisch zu realistischen Oberflächenmodellen, sogenannten Reality Meshes oder Gaussian Splats.
Damit lassen sich bestehende Bauwerke oder Geländemodelle präzise digital erfassen. Die klassische Vermessung mit Tachymeter und Theodolit wird dadurch nicht ersetzt, aber sinnvoll ergänzt. So entsteht eine echte Verschmelzung von Geo- und Bautechnologien, die für Ingenieure, Planer und Architekten enorme Vorteile bringt.
Welche Rolle spielt dabei die Plattformstrategie von Bentley?
Christof Lorenz: Unsere zentrale Plattform heißt iTwin. Sie dient als Daten- und Kollaborationsbasis für alle Projektphasen – von der Planung über die Bauausführung bis zum Betrieb. Unterschiedliche Datenquellen und Formate werden dabei vereinheitlicht und bleiben trotzdem mit ihren Originaldaten verknüpft.
Das ermöglicht es, einen digitalen Zwilling zu schaffen – also ein digitales Abbild eines realen Bauwerks, das sich mit dem physischen Objekt synchronisiert. Solche digitalen Zwillinge werden heute schon in Bauprojekten eingesetzt, um Bauabläufe zu simulieren oder den Betrieb komplexer Anlagen zu steuern.
Welchen Mehrwert bietet der digitale Zwilling im Vergleich zu herkömmlich geplanten 3D-Modellen?
Christof Lorenz: Ein 3D-Modell zeigt in der Regel nur Geometrie – aber das schon sehr gut. Ein Digital Twin enthält zusätzlich alle relevanten Daten zum Zustand, zur Nutzung oder zu geplanten Veränderungen und er ist verknüpft mit dem realen Bauwerk oder der Baustelle – quasi als “Construction Twin”. Damit bildet der Digital Twin also nicht nur ein fertiges Bauwerk, sondern auch den Bauprozess ab.
So lassen sich Logistik, Bauabläufe und Konflikte schon vorab planen bzw. Risiken vermeiden oder besser managen. Typische Probleme wie falsch platzierte Kräne oder Engpässe auf der Baustelle können virtuell erkannt und vermieden werden. In der Betriebsphase wiederum ermöglicht der Zwilling die Überwachung und Wartung über Jahrzehnte hinweg – und wir wissen ja, dass etwa 80% der Bauwerkskosten in der Betriebsphase entstehen.
Wie verbreitet sind solche Technologien in Deutschland?
Christof Lorenz: Deutschland ist ein sehr fragmentierter Markt. Wir haben viele kleine und mittelständische Ingenieurbüros und Bauunternehmen, aber nur wenige große Player. Das macht die Einführung neuer Technologien oft schwierig. In den USA etwa gibt es riesige Generalunternehmer, die solche Plattformen zentral einführen können – das ist hier vergleichsweise selten der Fall.
Zudem ist das Bauwesen in Deutschland stark reglementiert – durch Vergabeverfahren, Normen und lange Genehmigungsprozesse. Technisch könnten wir schon sehr viel schneller planen und bauen, aber rechtlich und organisatorisch hinken wir hinterher.
Welche Herausforderungen sehen Sie beim Thema Cloud, Datenhoheit und Datensicherheit?
Christof Lorenz: Die Frage nach der Datenhoheit und Datensourveränität ist absolut berechtigt und für unsere Kunden oberste Priorität. Unsere Kunden – vor allem öffentliche Auftraggeber – wollen wissen, wo ihre Daten liegen und wer Zugriff darauf hat. Wir bieten deshalb Lösungen, die sowohl in der Public Cloud in EU-Datenzentren als auch als Private-Cloud- oder On-Premise-Installation betrieben werden können.
Gerade im sicherheitskritischen Umfeld – etwa bei kritischer Infrastruktur oder Militäranlagen – ist es entscheidend, dass Daten in nationalen oder europäischen Rechenzentren bleiben. Gleichzeitig müssen wir als internationaler Anbieter höchste Datenschutz- und Compliance-Standards erfüllen, etwa nach DSGVO und zunehmend auch C5.
Wie positioniert sich Bentley im deutschen Markt angesichts dieser Besonderheiten?
Christof Lorenz: Unser Fokus liegt klar auf der Infrastruktur – also auf Straßen, Bahn, Energie, Wasser- und Abwasserversorgung. Das ist der Bereich, in dem öffentliche Auftraggeber tätig sind und in dem Investitionen langfristig wirken.
Bentley ist in Deutschland dafür mit mehreren Niederlassungen bereits gut aufgestellt, vor allem durch Kunden wie Siemens Mobility im Bahnsektor oder OEMs aus der Automobilindustrie. Im klassischen Ingenieur- und Tiefbau wollen und werden wir aber noch deutlich stärker werden – und das erfordert Nähe zu den vielen mittelständischen Akteuren.
Welche Rolle spielen dabei Normen und Prozesse im deutschen Bauwesen?
Christof Lorenz: Eine große. Prozesse im Bauwesen sind rechtlich festgelegt – durch VOB, HOAI, DIN Eurocode und zum Beispiel der ISO 19650 für das Thema Common Data Environment (CDE). Unsere Aufgabe ist es, digitale Werkzeuge zu liefern, die diese Vorgaben abbilden bzw. berücksichtigen und gleichzeitig die zu bedienenden Prozesse effizienter machen.
Ein gutes Beispiel ist das etablierte Thema des Common Data Environment: eine zentrale Datenplattform, über die alle Projektbeteiligten Dokumente, Modelle und Informationen austauschen und Workflows für Prozesse Audit-sicher abgebildet werden. Damit schaffen wir eine „Single Source of Truth“, also eine gemeinsame, verlässliche Datenbasis für das Informationsmanagement. Trotzdem arbeiten noch viele Bauunternehmen parallel mit E-Mails, WhatsApp oder Excel-Listen – das zeigt, wie viel Potenzial es noch gibt.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Baukonjunktur in Deutschland?
Christof Lorenz: Man muss klar unterscheiden zwischen privatem und öffentlichem Bau. Der private Sektor leidet derzeit stark unter gestiegenen Zinsen und Baukosten – viele Projektentwickler kämpfen ums Überleben. Der öffentliche Sektor dagegen wird durch Investitionsprogramme von Bund und Ländern gestützt, etwa im Bereich Verkehrsinfrastruktur oder Energieversorgung.
Das angekündigte Infrastrukturpaket der Bundesregierung mit rund 300 Milliarden Euro über zwölf Jahre ist eine enorme Chance. Aber es wird Zeit brauchen, bis die Mittel wirklich in den Projekten ankommen – und erst dann profitieren auch Planer, Bauunternehmen und Technologieanbieter wie wir.
Wo sehen Sie langfristig die größten Potenziale für Digitalisierung im Bauwesen?
Christof Lorenz: Im intelligenten Umgang mit Daten und in der Folge mit daten-gestützem Entscheidungsmanagment. Daten allein nützen nichts – sie müssen in Information und Wissen übersetzt werden. Ziel ist, Entscheidungen auf Basis objektiver, verknüpfter Informationen etwa bei Nachhaltigkeit, Kosten, Qualität, Risiken oder dem CO2-Fussabdruck über den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks zu treffen.
Das Bauwesen ist traditionell eher konservativ, aber der Druck wächst: durch Fachkräftemangel, Klimaziele und Kostendruck. Digitalisierung kann hier enorme Effizienz- und Qualitätsgewinne bringen – vorausgesetzt, Prozesse, gesetzliche Vorgeben und Verantwortlichkeiten werden mitentwickelt.
Was erwartet uns in der näheren Zukunft?
Christof Lorenz: Das Bauwesen steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Die Integration von Geo-, Planungs- und Betriebsdaten wird zum Standard. Digitale Zwillinge, Cloud-Plattformen und KI-gestützte Analysen verändern die Art, wie wir Infrastruktur planen, bauen und betreiben.
Für Bentley bedeutet das: Wir wollen Technologien liefern, die Komplexität beherrschbar machen – und unseren Kunden helfen, nachhaltiger, sicherer und wirtschaftlicher zu bauen.
Bentley Systems
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