Verzögerte Vergabe

Baubetriebliche Ermittlung angepasster Bauzeiten und angepasster Baukosten

Die verzögerte Vergabe bei öffentlichen Bauprojekten stellt eine Sonderform der Störung des Bauablaufs dar, weil die Störung bereits eintritt, bevor mit der Bauausführung überhaupt begonnen wird. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat erstmals 2009 hierzu entschieden, dass das Vergabeverfahrensrisiko grundsätzlich vom Auftraggeber zu tragen ist. Aus juristischer Sicht wurden die Urteile bereits in den Heften 07-08/2009 (Seiten 64 – 66), 11/2009 (Seiten 34 – 37) und 12/2009 (Seiten 41 – 43) diskutiert. Mit dem vorliegenden Beitrag soll aus baubetrieblicher Sicht erörtert werden, wie die Ansprüche, welche dem Grunde nach festgestellt wurden, baubetrieblich der Höhe von festgestellt werden können. Zu diesem Artikel steht der entsprechende Langaufsatz auf der Internetseite www.baumarkt-online.info zur Verfügung. Im Langaufsatz wird auch ausführlich ein praktisches Beispiel zur Ermittlung der angepassten Bauzeiten und angepassten Baukosten erläutert.

Vergabenachprüfungsverfahren als Ursache der Vergabever

zögerung

Durch die 1999 eingeführte Möglichkeit der Vergabenachprüfungen haben sich bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge ganz neue Probleme ergeben. Bei Bau-Vergaben oberhalb der EU-Schwellenwerte von aktuell 4.845.000 € (seit 01.01.2010) verhindert der sogenannte Suspensiveffekt des Vergabenachprüfungsverfahrens, dass der Zuschlag vor Abschluss dieses Verfahrens erteilt werden darf.

Das rechtsstaatliche Instrument der Vergabenachprüfung steht jedem Bieter zu, der sich benachteiligt fühlt. Hierbei kommt es jedoch nicht auf das subjektive Befinden des Bieters an, sondern auf objektive Benachteiligungen. Zunächst ist die Vergabekammer anzurufen, welche prüft, ob die Beschwerde anzunehmen ist. Durch die Nichtannahme sogenannter „Vermutungen ins Blaue“ hinein soll Missbrauch vermieden werden. Das Vergabekammerverfahren soll in der Regel kurzfristig innerhalb von fünf Wochen durchgeführt werden. Sofern eine Partei die Entscheidung der Vergabekammer anficht, erfolgt eine weitere Überprüfung bei den Vergabesenaten der Oberlandesgerichte, welche endgültig entscheiden.

 

Die Bindefristverlängerung

Die häufigste Ursache von Vergabeverzögerungen sind Vergabenachprüfungsverfahrenen. Daneben können auch verwaltungsinterne Gründe für eine Vergabeverzögerung vorliegen. Unabhängig von der Ursache der Vergabeverzögerung ist das Ergebnis immer ein verspätet erteilter Zuschlag.

Sofern die Vergabestelle feststellt, dass der Zuschlag nicht innerhalb der ursprünglichen Bindefrist erteilt werden kann, hat sie die Bieter aufzufordern, die Bindefrist zu verlängern. Verweigert der Bieter diese Bindefristverlängerung, so entfällt vergaberechtlich sein Angebot. Will der Bieter jedoch weiterhin im Verfahren verbleiben, so muss er der Bindefristverlängerung bedingungslos zustimmen. Wie kann der Bieter jedoch bedingungslos zustimmen und sich weiter an sein ursprüngliches Angebot binden, ohne die zeitlichen und kostenmäßigen Auswirkungen der späteren Bauausführung gleichzeitig geltend zu machen. Wenn sich der vorgesehene Ausführungszeitraum durch die Vergabeverzögerung ändert, hat dies Einfluss auf die kalkulierten Kosten. Würde der Bieter mit der Bindefristverlängerung konkrete Bedingungen verknüpfen, läge vergaberechtlich ein neues Angebot vor, welches das ursprüngliche ersetzt. Allerdings ist das neue Angebot verspätet eingegangen, nämlich nach Submissionstermin und somit von der Wertung auszuschließen.

Verliert der Bieter somit bei einer Bindefristverlängerung sämtliche Ansprüche auf Kostenänderungen? Dazu hat der BGH
ausdrücklich Nein gesagt, denn die Zustimmung zur Bindefristverlängerung ist ausschließlich eine Aussage im Vergabeverfahren und enthält keine weitere Erklärung zum Inhalt des Angebotes. Der Bieter hat nach dem ersten BGH-Urteil [1] zur verzögerten Vergabe automatisch einen Anspruch auf Anpassung der Bauzeiten und Baukosten. Somit können Bieter der Bindefristverlängerung ohne Bedenken vorbehaltlos zustimmen, ohne dadurch auf mögliche Ansprüche zu verzichten.

 

Der verzögerte Zuschlag

Sofern das Vergabenachprüfungsverfahren abgeschlossen ist, kann der Zuschlag erteilt werden. Dieser Zuschlag sollte, um vergaberechtlich einwandfrei zu sein, auf das Angebot ohne Abänderungen erteilt werden. Mit dem Zuschlag wird entsprechend den Vorgaben des Vergaberechts wirksam der Bauvertrag geschlossen.

Dieser Bauvertrag enthält dann in der Regel bereits veraltete Termine, meist ist der Beginntermin verstrichen, teilweise auch der Fertigstellungstermin. Hier ist nach erfolgtem Vertragsschluss eine Anpassung des Vertragsinhaltes erforderlich.

 

Erste BGH-Urteile

zur verzögerten Vergabe

Zehn Jahre nach Einführung des Rechtsschutzes für die Bieter hat der BGH am 11.05.2009 das erste Urteil zur verzögerten Vergabe gefällt. In zwei Leitsätzen werden die Grundaussagen zusammengefasst.

Mit dem Leitsatz a) weist der BGH den vergaberechtlich einwandfreien Weg, dass ein wirksamer Bauvertrag durch Zuschlag zustande kommt, auch wenn damit überholte Ausführungsfristen vereinbart werden. Dies ist eine Absage an Änderungen von Ausführungsfristen bereits mit dem
Zuschlag.

Als Folge ergeben sich gemäß Leitsatz b) Anpassungsansprüche des Auftragnehmers hinsichtlich der Bauzeit, welche jedoch im Einzelfall zu beurteilen sind. Der Vergütungsanspruch ergibt sich entsprechend den Grundsätzen des § 2 Nr. 5 VOB/B,
welcher bei Auftraggeber-seitigen Änderungsanordnungen, und als solche wird die Vergabeverzögerung im Hinblick auf den späteren Baubeginn gedeutet, eine vorkalkulatorische Anpassung des Preises vorsieht.

Der BGH stellt unmissverständlich fest, dass das Vergabeverfahrensrisiko grundsätzlich dem Auftraggeber zuzuordnen ist. Da der öffentliche Auftraggeber als „Veranstalter“ der Vergabe durch Vorschriften an das Vergaberecht gebunden ist, erscheint es angemessen, ihm die Folgen der verzögerten Vergabe zuzuordnen. Mit zwei weiteren Urteilen vom 10.09. 2009 hat der BGH festgestellt, dass ohne Änderung der Ausführungsfristen kein Anspruch auf Mehrkosten besteht [2], dass jedoch bei fehlenden fixen Ausführungsfristen in den Ausschreibungsunterlagen ein Anspruch bestehen kann [3].

 

Feststellung der

angepassten Bauzeiten

Mit dem ersten BGH-Urteil zur verzögerten Vergabe wird ausgeführt, wie der wirksam geschlossene Vertrag mit unmöglichen Ausführungsfristen anzupassen sei [4].

Die Vergabeverzögerung wird zunächst als Behinderungs-ähnliche Ursache gemäß § 6 Nr. 2 VOB/B dem Risikobereich des Auftraggebers zugeordnet. Daraus ergeben sich Ansprüche auf Fristverlängerung für den Auftragnehmer gemäß § 6 Nr. 4 VOB/B.

Der Auftragnehmer hat somit Anspruch auf Fristverlängerung zunächst um den Zeitraum der Zuschlagsverzögerung, also einer Parallelverschiebung der Bauzeit. Zusätzlich ergeben sich jedoch gegebenenfalls weitere Ansprüche durch einen witterungsbedingten Zuschlag. Formuliert die VOB/B hier noch einseitig nur eine Verschiebung in eine ungünstigere Jahreszeit, hat der BGH ausdrücklich festgestellt, dass auch Erleichterungen durch eine Verschiebung in eine günstigere Jahreszeit zu berücksichtigen sind. Diese Berücksichtigung sowohl von Erschwernissen als auch Erleichterungen ergibt sich aus der Schadensminderungspflicht des Auftragnehmers gemäß § 6 Nr. 3 VOB/B [5].

Darüber hinaus sind gegebenenfalls weitere Einflüsse zu berücksichtigen, zum Beispiel durch technische Erfordernisse oder Abhängigkeiten zu Leistungen Dritter. Die angepasste Bauzeit kann somit nicht ohne Weiteres festgestellt werden. Hierzu ist es zunächst erforderlich, den geplanten, der Kalkulation des Auftragnehmers zugrunde liegenden, Bauablauf festzustellen. Dieser wird dann um die Vergabeverzögerung verschoben. Abschließend werden witterungsbedingte Einflüsse berücksichtigt.

 

Feststellung der

angepassten Baukosten

Mit dem ersten BGH-Urteil wird auch methodisch vorgegeben, wie die Baukosten anzupassen sind [6].

Obwohl teilweise rechtsdogmatisch umstritten, dass für eine Störung vor Vertragsabschluss eine Regelung gemäß VOB/B
angewendet wird, welche erst mit Vertragsschluss gilt, hat der BGH hier einen pragmatischen Weg gewiesen, wie mögliche Kostenänderungen berücksichtigt werden können. Die Anwendungsmethodik des
§ 2 Nr. 5 VOB/B ist hinlänglich bekannt. Trotzdem ergeben sich bei der Anwendung neue Fragestellungen, welche vermutlich in der Zukunft durch weitere Urteile des BGH geklärt werden müssen.

Kernaussage des BGH zur Anwendung des § 2 Nr. 5 VOB/B ist, dass jede Preisänderung „ab dem ersten Cent“ Berücksichtigung findet. Es gibt keine Schwelle, unterhalb deren Ansprüche nicht geltend gemacht werden können, wie dies bei Anwendung des § 313 BGB (Störung der Geschäftsgrundlage) der Fall wäre.

Die Anwendung des § 2 Nr. 5 VOB/B erfordert eine vorkalkulatorische Fortschreibung des Preises [7]. Hatte der Bieter die Kalkulation des Preises aus dem Blickwinkel des ursprünglichen Zuschlagtermins und des sich daraus ergebenden Baubeginns vorgenommen, ist nun festzustellen, wie der Bieter bei Kenntnis des tatsächlichen Zuschlagstermins kalkuliert hätte. Grundsätzlich können deshalb die Kostenänderungen ausschließlich aus vorkalkulatorischer Sicht berechnet werden, auf die tatsächlichen Kosten bei der Bauausführung kann es nicht ankommen.

Zur vorkalkulatorischen Preisanpassung gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Der Verfasser präferiert hier insbesondere eine Fortschreibung von Lohnkosten auf Grundlage der Tarifvereinbarungen sowie der übrigen Kosten, insbesondere der Materialkosten, auf Grundlage amtlicher Preisindices des Statistischen Bundesamtes [8].

Auch die Straßenbauverwaltung hat mit dem HVA 2006 [9] bei den Materialpreisgleitklauseln die Abrechnung nach vorgelegten Angeboten abgeschafft und ausdrücklich die Anwendung von Preisindices vorgegeben. Die Indexlösung wird darüber hinaus auch zur Preisanpassung bei verzögerter Vergabe vermehrt angewendet. Das Argument, die Preisindices würden der tatsächlichen Entwicklung hinterherhinken, ist nicht gerechtfertigt, da die aktuellen Preisindices für den Vormonat bereits zwischen dem 15. und 20. des Folgemonats veröffentlicht werden.

Der Einwand, die bundeseinheitlichen Indices würden regionale Besonderheiten nicht berücksichtigen, kann zutreffend sein. Es müsste jedoch im konkreten Einzelfall eine regionale Preisentwicklung nachgewiesen werden, welche im Verzögerungszeitraum deutlich gegen den Bundestrend läuft.

Schwierigkeiten können sich jedoch bei bestimmten Baustoffen ergeben, die unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht bundesweit verfügbar sind. Gerade bei Erdbaustoffen kann sich das Problem ergeben, dass diese nicht zu jeder Zeit in entsprechender Menge an jedem Ort verfügbar sind. Hier sind im Einzelfall marktbedingte Zu- oder Abschläge auf die Preisindices vorzunehmen. Jedoch ist es zunächst Pflicht des Auftragnehmers, die Preissteigerung nachprüfbar darzulegen. Die bloße Behauptung zum Beispiel, der ursprüngliche Lieferant stehe nicht mehr zur Verfügung und ein anderer Lieferant fordere einen um
80 % höheren Preis, kann nicht Grundlage für die Feststellung des geänderten Preises sein. Insbesondere vor dem Hintergrund der Konzentration in der Bauwirtschaft ergeben sich Beurteilungsschwierigkeiten durch wirtschaftliche Verflechtungen von Auftragnehmern und Lieferanten.

Es gibt somit noch vielfältige Fragen zur konkreten Preisanpassung, welche voraussichtlich auch gerichtlich geklärt werden. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung sollte jedoch ein fairer Interessenausgleich der Bauvertragsparteien stehen: Dem Auftragnehmer steht ein Preisanpassungsrecht zu, allerdings darf der Auftraggeber nicht ungerechtfertigten Forderungen schutzlos ausgeliefert sein. Die Berechnung der geänderten Preise erfolgt auf Grundlage der Angebotskalkulation. Diese wird allerdings üblicherweise erst nach dem Zuschlag von der Vergabestelle angefordert und vom Auftragnehmer übergeben. In diesem Zusammenhang kann sich ein Glaubwürdigkeitsproblem ergeben, weil manche Auftraggeber hier „zielorientierte“ Überarbeitungen vermuten. Um den Bieter vor solchen Mutmaßungen zu schützen, sei Auftraggebern empfohlen, bereits mit der ersten Bindefristverlängerung die entsprechende Hinterlegung der Angebotskalkulationen durch die aussichtsreichsten Bieter zu veranlassen. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass nicht nur die Berechnung von Mehrkosten zu erfolgen hat, sondern ebenso von Minderkosten.

Sofern im Einzelfall der Auftragnehmer keine Minderkostenberechnung vornimmt, kann dies ersatzweise durch den Auftraggeber erfolgen. Seit Ende 2008 wird dies vor allem bei Positionen mit Stahlanteil der Fall sein, da der Stahlpreis stark gesunken ist (Betonstahl Lfd.-Nr. 272 von 247,6 im Juli 2008 auf 89,7 im Juli 2009).

 

Fazit

Den Bauvertragsparteien ist zu empfehlen, die Anpassung der Bauzeiten und Baukosten kurzfristig nach Zuschlag zu klären, da sonst die Auseinandersetzung darüber die weitere Bauausführung überschattet und im Schneeballprinzip auch die Einigung über weitere Nachtragsleistungen vor sich herschiebt.

 

Dipl.-Wirtsch.-Ing. Frank A. Bötzkes, Braunschweig,

ö. b. u. v. Sachverständiger für Bauablaufstörungen

Telefon: 05 31/51 61 530,

E-Mail: BiB@Boetzkes.de

... die Anpassung der Bauzeiten und
Baukosten direkt nach Zuschlag zu klären!

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