Wenn Brücken in die Jahre kommen

Deutschlands stille Infrastrukturkrise

Über 36.000 Brücken in Deutschland sind sanierungsbedürftig. Der von BIT Ingenieure AG und Drees & Sommer entwickelte „Sanierungsfahrplan Brücken“ hilft kleinen Gemeinden, ihre Brücken systematisch zu erfassen, Schäden zu bewerten und Sanierungen effizient zu planen. Mit Prognosetool und Prioritätenliste liefert der Fahrplan belastbare Daten, öffnet Förderwege und ermöglicht vorausschauendes Handeln – ein entscheidender Schritt, um Infrastruktur, Sicherheit und Haushalte langfristig zu sichern.

Die Rahmede-Talbrücke in Lüdenscheid war ein stolzes Bauwerk. Jahrzehntelang trug sie täglich tausende Fahrzeuge sicher über das Tal. Dann kam die Sperrung 2021, später die Sprengung. Was folgte, war ein Albtraum für die Region: endlose Staus, genervte Anwohner, verzweifelte Pendler. Der wirtschaftliche Schaden in den ersten fünf Jahren wird auf mindestens 1,8 Milliarden Euro geschätzt. Ein extremes Beispiel. Aber was in Lüdenscheid bereits Realität wurde, droht deutschlandweit.

Mehr als 8.000 Brücken im Autobahnnetz gelten als sanierungsbedürftig, an Bundesstraßen sind es weitere 3.000. Doch die wahre Zeitbombe tickt in den Kommunen: Über 25.000 Brückenbauwerke in kommunaler Trägerschaft nähern sich dem Ende ihrer geplanten Nutzungsdauer. Die meisten stammen aus den Wirtschaftswunderjahren, als Deutschland im Bauboom schwelgte und niemand daran dachte, dass Beton nicht ewig hält.

 

Das Dilemma der kleinen Gemeinden

Während große Städte, Bundes- und Länderministerien mit millionenschweren Budgets professionelles Erhaltungsmanagement betreiben, sieht die Realität in Kleinstädten und Dörfern anders aus. In einer Gemeinde mit 3.000 Einwohnern ist der Bürgermeister oft gleichzeitig Hauptamtsleiter und muss sich nebenbei auch noch um die Brücken kümmern. Für spezialisiertes Fachwissen wie beispielsweise für Bauwerksprüfungen fehlt das Personal.

„Kommunen wissen oft nicht einmal, wie viele Brücken sie besitzen, geschweige denn, in welchem Zustand sie sind“, sagt Gregor Labus, Brückenexperte bei der BIT Ingenieure AG. Die schlichte Realität vieler Kommunen, die mit knappen Kassen und wenig Personal jonglieren müssen.

Das rächt sich. Kommunen reagieren oft erst, wenn Betonbrocken herunterfallen oder statische Gutachten eine Sperrung erzwingen. Dann aber kann es richtig teuer werden. Was als kleiner Riss begann und mit wenigen tausend Euro hätte behoben werden können, entwickelt sich über Jahre zu einem Millionengrab.

 

Der unsichtbare Feind: Materialermüdung

Die Brücken der Wirtschaftswunderjahre waren für ihre Zeit gut geplant. Niemand ahnte damals, welche Belastungen heute auf sie zukommen würden. Der Schwerlastverkehr hat sich vervielfacht, das Verkehrsaufkommen ist exponentiell gestiegen. Dazu kommen Wetterextreme durch den Klimawandel: Starkregen, der in jede Ritze dringt, Frost-Tau-Wechsel, die den Beton sprengen, Hitzeperioden, die das Material ausdehnen lassen.

In der ersten Lebenshälfte sind Brücken robust und brauchen kaum Pflege. Nach etwa 35 bis 50 Jahren beginnt die kritische Phase, der Substanzverzehr setzt ein. Bewehrungsstahl beginnt zu rosten, Beton platzt ab, Lager verschleißen, Fugen werden undicht. Ein schleichender Prozess, der von außen oft kaum sichtbar ist.

Besonders tückisch ist die Spannungsrisskorrosion, ein Phänomen, das Spannbetonbrücken betrifft. Die hochfesten Stahlbewehrungen im Inneren der Brücke können durch Korrosion geschwächt werden und plötzlich reißen. Von außen sieht man nichts, bis es zu spät ist.

 

Die rechtliche Zeitbombe

Was viele Bürgermeister und Bürgermeisterinnen nicht wissen: Sie tragen persönlich die Verantwortung für ihre Brücken. Paragraph 9 des Straßengesetzes Baden-Württemberg beispielsweise ist da unmissverständlich. Die Gemeinde als Straßenbaulastträger muss für Zustand und Verkehrssicherheit geradestehen. Passiert etwas, drohen nicht nur Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe. Im schlimmsten Fall kann es zur persönlichen Haftung der Amtsträger kommen.

„Wenn eine Brücke zusammenbricht, weil niemand nachgeschaut hat, ist das auch ein juristisches Desaster“, warnt Gregor Labus. Ein Albtraum für jeden Bürgermeister.

 

Die versteckten Kosten maroder Infrastruktur

Eine gesperrte Brücke in der Stadt mag ärgerlich sein. Auf dem Land kann sie existenzbedrohend werden. Plötzlich müssen Rettungswagen kilometerweite Umwege fahren und verlieren wichtige, lebensrettende Minuten. Der Schulbus braucht eine Stunde statt zwanzig Minuten. Pendler kommen zu spät zur Arbeit. Der Einzelhandel verliert Kunden, weil die Anfahrt zu umständlich wird. Touristen meiden die Region.

„Das sind Konsequenzen, die viele Kommunen nicht auf dem Schirm haben“, sagt Labus. In manchen ländlichen Regionen bedeutet eine gesperrte Brücke Umwege von 10, 20 oder sogar 30 Kilometern. Ganze Ortsteile werden praktisch abgeschnitten. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen sind verheerend.

 

Ein Rettungsanker für Kommunen

Genau hier setzt der „Sanierungsfahrplan Brücken“ an, den die BIT Ingenieure AG mit Hauptsitz in Karlsruhe und Drees & Sommer SE mit Hauptsitz in Stuttgart entwickelt haben. Das Konzept richtet sich gezielt an kleine und mittlere Kommunen mit 2.000 bis 30.000 Einwohnern, die typischerweise 10 bis 25 Brücken verwalten.

Der Ansatz ist pragmatisch. Statt jede Brücke für zigtausend Euro nach DIN-Norm durchprüfen zu lassen, beginnt alles mit einer systematischen Bestandsaufnahme. Die Ingenieure der BIT sammeln zunächst alle vorhandenen Informationen: alte Baupläne, frühere Prüfberichte, Reparaturdokumentationen. Oft ist das erschreckend wenig. Manchmal weiß niemand mehr genau, wann eine Brücke gebaut wurde oder aus welchem Material sie besteht.

Dann folgt die visuelle Begehung vor Ort. Erfahrene Ingenieure, unterstützt von Tragwerksplanern, untersuchen jede Brücke systematisch. Sie dokumentieren Risse, Betonabplatzungen, Rostspuren, defekte Lager und Fugen. Jeder Schaden wird fotografiert, vermessen und eingeordnet. Keine aufwendige Materialprüfung mit Bohrkernen, sondern eine pragmatische Bestandsaufnahme dessen, was mit geschultem Auge sichtbar ist.

 

Die Macht der Prognose

Die gesammelten Daten fließen in ein von Drees & Sommer entwickeltes Prognosetool ein. Diese Software, die bereits in Großstädten und Ministerien erfolgreich eingesetzt wird, simuliert die Zustandsentwicklung der Brücken über die nächsten 10 bis 15 Jahre. „Wir modellieren, wie sich der aktuelle Zustand unter den gegebenen Bedingungen entwickeln wird“, erläutert Uwe Müller von der Technical Infrastructure-Abteilung bei Drees & Sommer.

Das System berücksichtigt Verkehrsbelastung, Umwelteinflüsse und Materialermüdung. Es identifiziert kritische Zeitpunkte, an denen Maßnahmen am wirtschaftlichsten sind. Eine kleine Reparatur heute kann eine Komplettsanierung in fünf Jahren verhindern. Das Tool zeigt auch, wo sich Maßnahmen bündeln lassen. Wenn ohnehin eine Umleitung eingerichtet werden muss, können vielleicht gleich zwei benachbarte Brücken saniert werden.

Das Ergebnis ist ein konkreter Fahrplan mit Prioritätenliste und Kostenschätzung. Die Kommune weiß nun: Diese Brücke ist nächstes Jahr dran, jene kann noch drei Jahre warten, und die dritte sollte man vielleicht ganz aufgeben und den Verkehr umleiten. Alles mit konkreten Zahlen hinterlegt, die sich in den Haushalt einplanen lassen.

 

Der Kampf um Fördergelder

Ein entscheidender Vorteil des Sanierungsfahrplans: Er öffnet Türen zu Fördertöpfen. Der Bund hat ein 100-Milliarden-Infrastrukturpaket geschnürt. Doch wer Geld will, muss nachweisen, dass Einzelmaßnahmen in ein Gesamtkonzept eingebettet sind. Genau das leistet der Fahrplan. Er dokumentiert, dass die Kommune ihre Hausaufgaben gemacht hat und verantwortungsvoll mit der Infrastruktur umgeht. „Wer nicht weiß, was er gefördert haben will, bekommt kein Geld“, bringt es Volker Mörgenthaler vom Vorstand der BIT Ingenieure auf den Punkt. Der Sanierungsfahrplan ist quasi die Eintrittskarte zu den Förderprogrammen von Bund und Land. Er zeigt konkreten Bedarf auf und erhöht die Wahrscheinlichkeit, einen Zuschlag zu erhalten.

 

Baden-Württemberg macht es vor

Das Land Baden-Württemberg zeigt, wie es gehen kann. Auf Basis einer Analyse von Drees & Sommer, bei der 7.300 Bundes- und Landesstraßenbrücken untersucht und dabei zahlreiche Risikokandidaten identifiziert wurden, hat das Land ein strategisches Brückenerhaltungsprogramm aufgelegt. Allein 2025 umfasst es mehr als 160 Projekte, darunter 13 Brückenersatzneubauten. Mittelfristig sollen jährlich bis zu 100 Brücken im Landes- und Bundesstraßennetz grundlegend saniert oder ersetzt werden.

Das Programm konzentriert sich besonders auf Brücken mit Spannungsrisskorrosionsgefahr, die bis 2030 ersetzt werden müssen. Ein Wettlauf gegen die Zeit, denn diese Brücken können ohne Vorwarnung versagen.

 

Nachhaltigkeit im Blick

Moderne Brückensanierung denkt auch an morgen. Beton wird zerkleinert und als Tragschicht wiederverwendet. Asphalt wird recycelt. Bewehrungsstahl wird eingeschmolzen. Neue Materialien wie Carbonbeton, der deutlich langlebiger ist als herkömmlicher Stahlbeton, werden erforscht und eingesetzt.

Auch die Verkehrswende spielt eine Rolle. Jeder Lkw weniger verlängert die Lebensdauer einer Brücke. Eine stärkere Verlagerung auf die Schiene könnte den Sanierungsdruck deutlich mindern. Doch bis dahin müssen die Kommunen mit dem arbeiten, was sie haben.

 

Der Weg aus der Krise

Der Sanierungsfahrplan ist kein Allheilmittel, aber er gibt Kommunen ein Werkzeug an die Hand, um aus der Defensive zu kommen. Statt nur auf Schadensfälle zu reagieren, können sie vorausschauend planen. Statt im Dunkeln zu tappen, haben sie belastbare Daten. Statt Fördergelder zu verschenken, können sie gezielt Anträge stellen.

Die Investition in so einen Fahrplan mag zunächst schmerzen in Zeiten knapper Kassen. Doch sie zahlt sich mehrfach aus. Rechtzeitige kleine Reparaturen verhindern teure Komplettsanierungen. Geplante Maßnahmen sind günstiger als Notfallaktionen. Und nicht zuletzt: Die rechtliche Absicherung durch dokumentiertes, verantwortungsvolles Handeln ist unbezahlbar.

Deutschlands Brücken werden nicht jünger. Die Herausforderung wird in den kommenden Jahren eher größer als kleiner. Doch mit den richtigen Werkzeugen und Strategien lässt sich die Krise meistern. Der Sanierungsfahrplan zeigt einen Weg auf, wie auch kleine Kommunen ihre Infrastruktur professionell managen können.

 

BIT Ingenieure AG

www.bit-ingenieure.de

Drees & Sommer SE

www.dreso.com

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