Arbeitnehmerfreizügigkeit weckt Befürchtungen

Integrierter EU-Baumarkt bietet aber auch Chancen

Wie groß ist die Gefahr, dass Polen, Tschechen, Ungarn und Balten den wenig qualifizierten Arbeitnehmern hierzulande die Jobs wegschnappen? Die Deutschen haben tatsächlich Angst vor der seit Mai geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bürger aus acht mittel- und osteuropäischen EU-Staaten. Umfragen belegen dies. In manchen Grenzregionen zu Polen und Tschechien, die sowieso schon wirtschaftlich benachteiligt sind, herrscht eine gewisse Nervosität.

Besonders laut beschwerte sich die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, da es für den Einzelhandel und andere Dienstleistungen teilweise keine Tarifverträge gibt. Wie ist es aber beim Bau? Hier gibt es seit der großen Strukturkrise der 90iger Jahre einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn, der auch für die Neuankömmlinge gilt. Die zwei großen deutschen Bauverbände sind zu diesem Thema geteilter Meinung.

„Allzu große Belastung“

Im Februar warnte Hans-Hartwig Loewenstein, Präsident des Zentralverbands Deutsches Baugewerbe (ZDB), vor einer „allzu großen Belastung des Bauarbeitsmarkts aufgrund von Wanderungsbewegungen aus Osteuropa“. Es dürfe nicht dazu kommen, „dass Unternehmen, die heimische Arbeitskräfte beschäftigen und hier Steuern und Sozialabgaben entrichten, durch unfairen Wettbewerb und Betrügereien vom Markt verdrängt werden“. Er bezog sich auf Experten, laut denen 100.000 bis 150.000 Bauarbeiter aus dem Osten nach Deutschland kommen könnten. Er setzte noch einen drauf: ein „Preisdumping würde Arbeitsplätze kosten und zulasten der Bauqualität gehen“. Deshalb forderte er, dass hierzulande aktive ausländische Unternehmen früher als erst nach zwei Jahren der deutschen Steuer- und Sozialversicherungspflicht unterliegen.

 

Bauindustrie gelassen

Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie hingegen sieht, laut einer Presse-
mitteilung von April, der Öffnung des
Bauarbeitsmarkts „gelassen“ entgegen. Hauptgeschäftsführer Michael Knipper rechnete nicht „mit größeren Verwerfungen“. Allenfalls an der Grenze zu Polen könne es vorübergehend zu Problemen kommen. Die Mindestlöhne am Bau würden dafür sorgen, dass es nicht zu Lohndumping und zu „ruinösen“ Wettbewerbsverhältnissen auf dem deutschen Baumarkt kommen werde. Er glaubt auch nicht, dass jährlich zwischen 100.000 und 200.000 Bauar-
beitnehmer aus den MOE-Staaten nach Deutschland strömen werden. Er verweist auf den Umstand, dass die Bauunternehmen aus Osteuropa in den letzten Jahren die Möglichkeit nicht genutzt hätten, ihre Arbeitskräfte im Rahmen von Werkarbeitnehmerkontingenten in Deutschland einzusetzen. Außerdem würden in den MOE-Staaten, besonders im boomenden Polen, Baufachkräfte dringend gesucht. Ein sehr lesenswertes Positionspapier des Hauptverbands zum Mindestlohn, das RA Knipper vorstellte, hebt unter anderem hervor, dass seit 1999 die Zahl der von ausländischen Baufirmen entsandten Arbeitnehmer in Deutschland um mehr als die Hälfte gesunken ist, von 126.000 auf 51.000 in 2009.

 

Bauarbeiter aus Warschau werden nicht kommen

Zugegeben, die Arbeitskosten im deutschen Baugewerbe sind noch immer viel höher als in den MOE-Staaten, aber, so vermerkt es das Positionspapier, in Metropolen wie Warschau und Budapest sind die Lohnkosten inzwischen so hoch, dass dort tätige Bauarbeitnehmer in der Auswanderung keinen großen Anreiz sehen werden. Übrigens sind bereits in 2004 viele polnische Bauarbeiter nach Irland und Großbritannien gegangen; als die Baukonjunktur dort einbrach und in Polen anzog, kamen wieder viele nach Hause. Erst in 2012, so die Experten, wird die günstige Baukonjunktur in Polen auslaufen. Dann kommen vielleicht welche nach Deutschland. Laut Dr. Thomas Birtel, Vorstand der Strabag AG in Köln und der Mutter Strabag SE in Wien, darf man die Mobilität osteuropäischer Bauarbeiter nicht überschätzen. „Nicht jeder geht von Ostpolen nach Deutschland“, sagt er. Er habe keine „nennenswerten Befürchtungen“, Deutschland habe ein Regelwerk aufgestellt und die Branche solle sich daran halten. Schwarze Schafe werden bestimmt wie schon in der Vergangenheit Missbrauch treiben. Die staatlichen Kontrollen auf den Baustellen werden verstärkt werden müssen.

 

Deutsche Baukonzerne stark in den MOE-Staaten vertreten

Man muss den Auswandererstaaten Gerechtigkeit antun. Deutschland und Österreich waren die einzigen EU-Staaten, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit bis zum Limit hinausgezögert haben. Aufgeklärte Europäer können diese fürwahr egoistische Haltung nur tadeln. Seit Jahren sind die großen deutschen und österreichischen Bauunternehmen Hochtief, Bilfinger Berger und Strabag in den MOE-Ländern stark vertreten. Was ihnen wegen der Abschottungspolitik in Frankreich oder Spanien bisher verwehrt blieb, ist ihnen im Osten gelungen. Strabag erhielt so z.B. einen Riesenauftrag von 1,5 Mrd. Euro für den Bau und den Betrieb der polnischen Autobahn A2;  letztes Jahr sorgte dies für einen tüchtigen Gewinnanstieg im Konzern. Davon profitieren auch die deutschen Beschäftigten der Gruppe.


Marcel Linden,

Bonn

Im Hauptverband der Deutschen Bauindustrie sieht man es eher gelassen!

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