Ach, wie gut, dass niemand weiß …

Aus der Reihe „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“

Unser heutiges Thema ist die VOB/B § 18 Nr. 2. Ich möchte die Ausführungen zu diesem Thema in 4 Punkte gliedern: 1. Wird die Möglichkeit nach VOB/B § 18 Nr. 2 angenommen? 2. Schilderungen einer Auseinandersetzung – noch ohne Ende! 3. Die Alternative? Und 4. Wie könnte man die Verhandlung effektiver machen?

1 Wird die Möglichkeit nach VOB/B § 18 Nr. 2 angenommen?

Es handelt sich bei dem § 18 Nr. 2 der VOB/B um eine attraktive Konfliktlösung. Die Möglichkeiten, die diese Konfliktlösung bietet, ist nicht bekannt genug und wird dementsprechend sparsam in Anspruch genommen. Dies gilt für Unternehmer und Auf-
traggeber gleichermaßen. Ich selbst konnte viele Male an einem solchen Verfahren mit meinen Auftraggebern teilnehmen und es kam zu ganz unterschiedlichen Erfahrungen. Es gibt Gebiete in Deutschland und auch Bereiche im öffentlichen Bau (z. B. im Straßenbau), wo es immer wieder zu Anrufungen kommt und diese Möglichkeit in Anspruch genommen wird.

In Baden-Württemberg wurden Erfahrungen gesammelt, als ein Landratsamt das Anrufungsverfahren mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verhinderte. Die betroffene Firma schrieb an die Beschwerdestelle des Landes Baden-Württemberg und korrespondierte mit dem Wirtschaftsministerium und dem Ministerpräsidenten und fand dort viel Verständnis. Dennoch kam es nicht zur Einleitung dieses Anrufungsverfahrens, das auch für Gemeinden und Landkreise Entlastung bringen kann. Für die Unwilligen, die sich auf Landkreis- und Regierungspräsidiumsebene zeigten und äußerten, könnte es heißen: „Ach, wie gut, dass niemand weiß …“

So wird in Ingenstau/Korbion, 16. Auflage, § 18 Nr. 2, Rdn. 12 ausgeführt: „Die unmittelbar vorgesetzte Stelle richtet sich nach dem Verwaltungsaufbau, in deren Hierarchie sich die auftragvergebende Stelle befindet. Ergibt sich die nächst höhere Stelle nicht aus den Verdingungsunterlagen, muss der Auftraggeber hierüber Auskunft erteilen. Dabei handelt es sich um eine bauvertragliche Nebenpflicht, deren Verletzung zu einem Schadenersatzanspruch aus positiver Vertragsverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) führen kann (vgl. insoweit auch den zur Auskunftspflicht geregelten Parallelfall bei § 18 Nr. 1 Satz 2, § 18 Nr. 1 VOB Rn. 40). Bei Gemeinden und Gemeindeverbänden sowie den Landkreisen ist unmittelbar vorgesetzte Stelle im hier maßgebenden Sinne die deren Tätigkeit überwachende Aufsichtsbehörde.“

Die Baufirma richtete ein Anrufungsschreiben an das zuständige Regierungspräsidium. Trotz großer Bemühungen und trotz Unterstützung durch verschiedene Ministerien scheiterten wir bei diesem Regierungspräsidium und wurden abgewiesen. In einer Notiz wurde seinerzeit festge-
halten:

„Nach wie vor sind wir der Auffassung, dass das Regierungspräsidium für die Anrufung nach VOB/B § 18 Nr. 2 zuständig ist, soweit ein Landkreis Auftraggeber für das Bauhaupt- Baunebengewerbe ist.“

So schreibt das zuständige Regierungspräsidium in Baden-Württemberg: „Insoweit erlauben wir uns, Ihnen mitzuteilen, dass wir uns nicht als vorgesetzte Stelle des Landkreises ………. gemäß § 18 Nr. 2 VOB/B betrachten. In vergaberechtlichen Angelegenheiten kann das Regierungspräsidium nur als Rechtsaufsichtsbehörde tätig werden. Die Rechtsaufsichtsbehörde ist jedoch keine Instanz mit der Zweckbestimmung des individuellen Rechtschutzes, sondern eine Kontrollinstanz, die im öffentlichen Interesse tätig wird. Ob sie einen Fall aufgreift, liegt in ihrem pflichtgemäßen Ermessen. Auch sind mögliche rechtsaufsichtliche Mittel begrenzt. Dies entspricht nicht den Anforderungen an eine vorgesetzte Stelle im Sinne des § 18 Nr. 2 VOB/B. Eine vorgesetzte Stelle kann nur angerufen werden, wenn es sich um eine untere Behörde in einem hierarchischen Behördenaufbau mit einem umfassenden Über-
Unterordnungsverhältnis handelt. Ein – um-
fassendes – Über-/Unterordnungsverhältnis in diesem Sinne besteht im rechtsaufsichtlichen Bereich gegenüber dem Landkreis in seiner Funktion als Selbstverwaltungskörperschaft nicht.

Soweit in ihrem Schreiben eine Anregung an die Rechtsaufsichtsbehörde zur rechtsaufsichtlichen Tätigwerden liegen könnte, machen wir darauf aufmerksam, dass wir unanhängig von der Frage, ob mögliche Verstöße gegen Verpflichtungen aus bürgerlich-rechtlichen Verträgen, ein rechtsaufsichtliches Einschreiten vom Grunde her rechtfertigen könnten, grundsätzlich nicht in die Abwicklung von Zivilrechtsgeschäften eingreifen.

Ihr Schreiben haben wir dem Landratsamt mit der Bitte um Kenntnisnahme und nochmalige Prüfung Ihrer Argumente weitergeleitet.“ Das Staatsministerium wurde angeschrieben und zeigte sehr viel Verständnis für die betroffene Firma. Die Unterlagen wurden dann zuständigkeitshalber an das Innenministerium weitergeleitet. Es wurde vom Innenministerium bestätigt, dass die Rechtsaufsichtsbehörde über das Landratsamt das Regierungspräsidium ist. Es wurde weiterhin ausgeführt, dass das Schreiben dem Regierungspräsidium übersandt wurde mit der Bitte um Prüfung und weitere Veranlassung. Es wurde auch das Versprechen abgegeben, dass von dort weitere Nachrichten kommen.

Leider gab es diese weiteren Auskünfte nicht mehr und dem Bauunternehmen gelang es nicht, sich durch dieses Kompetenzwirrwarr hindurch zu arbeiten. Letztendlich scheiterten die Bemühungen, die eigentlich nach der VOB/B § 18 Nr. 2 hätten einen ganz anderen Verlauf nehmen müssen. „Ach. wie gut, dass niemand weiß …“

 

2 Schilderung einer Auseinandersetzung – noch ohne Ende!

Es geht um zwei Parteien, wobei die erste Partei unter diesem Punkt Erwähnung findet und die zweite Partei folgerichtig unter Punkt 3.

In der Hauptsache geht es um den Mehrvergütungsanspruch bei verspätetem Zuschlag. Es soll auch nicht Thema dieses Aufsatzes sein, auf diesen bereits oft besprochenen Vorgang einzugehen, der bisher vom Landgericht Berlin, vom Kammergericht Berlin und dann vom Bundesgerichtshof ausgezeichnete Urteile aufweist. Es geht darum, die Unterschiede zwischen der Anrufung und dem zeitlichen Ablauf zu schildern, der sich in drei Gerichtsverfahren darstellt. Gleichzeitig soll dies ein Plädoyer für die Anrufung sein und zwar am Ende mit einem anderen Entscheidungsgremium als jetzt. Darauf komme ich aber unter Punkt 4 noch zurück. Die erste Partei stellte die Abrechnung für das Bauvorhaben auf und reichte diese Abrechnung zur Prüfung ein. Nach Ablauf der Prüfungsfrist und Rückgabe der Unterlagen war die Partei mit dem Ergebnis nicht zufrieden und startete die Anrufung nach § 18 Nr. 2. Es wurde geprüft, Unterlagen hin- und hergeschickt und der Anrufungsschriftsatz wurde dem Gremium (vorgesetzte Stelle) vorgelegt. Es kam zur Verhandlung vor diesem Gremium und später auch zu einer Entscheidung. Diese Entscheidung brachte der ersten Partei einen Teilerfolg und man entschloss sich, wegen einer noch bestehenden größeren Forderung die Klage vor dem ordentlichen Gericht in die Wege zu leiten. Dies geschah auch gegen Ende 2008 vor dem zuständigen Landgericht. Nach der Klageerwiderung und einem weiteren Schriftsatz steht diese Partei heute noch beim Landgericht und erwartet günstigenfalls in Kürze den Termin für die erste Verhandlung. Zeitlich ist das Ende offen und wir können nicht sagen, wann im Fall der ersten Partei der Schlussstrich gezogen wird. Die Verfahren sind schwerfällig, langsam im Ablauf und dauern daher zu lange. Auch hier der Ausspruch: „Ach, wie gut, dass niemand weiß …“

  

3 Die Alternative?

Alternativ hat die zweite Partei sofort den Weg über die ordentlichen Gerichte gewählt. Dabei fiel der erste Vorhang beim Landgericht Berlin am 15.11.2006: „Wer trägt Vergabeverfahrensrisiko?“ (Fundstelle, IBR 2007, 301)


IBR Online:

„Ein Auftragnehmer kann vom öffentlichen Auftraggeber aus einer entsprechenden Anwendung von § 2 Nr. 5 VOB/B den Ersatz der Mehrkosten verlangen, die ihm durch die zeitliche Verschiebung des Zuschlags und damit der Bauausführung entstehen.“

Der zweite Vorhang senkte sich am 05.10.2007, Kammergericht Berlin, Fundstelle IBR 2008, 108.


IBR-Online:

„Wegen des besonderen Verhältnisses zwischen Bauherrn und Bauunternehmer besteht eine Verpflichtung des Bauherrn, einer Preisanpassung zuzustimmen, soweit diese durch Änderungen der Materialkosten verursacht ist, die auf Verzögerung des Vergabeverfahrens durch ein Nachprüfungsverfahren zurückzuführen ist.“ Der dritte und entscheidende Vorhang fiel am 11.05.2009 nach einem BGH-Urteil, AZ VII ZR 11/08, Fundstelle IBR 2009, 310-312


IBR-Online:

„Ein Zuschlag in einem durch ein Nachprüfungsverfahren verzögerten öffentlichen Vergabeverfahren über Bauleistungen erfolgt auch dann zu den ausgeschriebenen Fristen und Terminen, wenn diese nicht mehr eingehalten werden können. Der so zustande gekommene Bauvertrag ist ergänzend dahin auszulegen, dass die Bauzeit unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und der vertragliche Vergütungsanspruch in Anlehnung an die Grundsätze des § 2 Nr. 5 VOB/B anzupassen sind.“

Es empfiehlt sich, in den ausführlich gestalteten Fundstellen von IBR Einzelheiten nachzulesen. Während die zweite Partei am 11.05.2009 das Endurteil des BGH in Händen hält, befindet sich die erste Partei noch vor dem Landgericht.

 

4 Wie könnte man die Verhandlung effektiver machen?

Mit dieser Frage kann man nicht alles ausdrücken. Die Themen, die einem durch den Kopf gehen sind so vielschichtig, dass sie mit dieser Frage alleine nicht genügend auf den Punkt gebracht werden. Dabei geht es bei diesem Aufsatz um einen Denkanstoß.

Zunächst die Feststellung, dass die unmittelbar vorgesetzte Stelle nicht das richtige Gremium ist. Man trifft wiederum auf Behördenvertreter, selbst wenn man feststellt, dass sich darunter auch Frauen und Männer befinden, die diese Aufgabe sehr ernst nehmen und fachkundig sind. Dies reicht aber nicht. Da sitzt einem immer noch der verlängerte Behördenarm gegenüber und die Einsicht mutige Entscheidungen treffen zu können und zu sollen, hat sich nach meinen Erfahrungen nicht eingestellt.

Man spürt auch die Sorge, dass Entscheidungen sanktioniert werden, die man an irgendeiner Stelle vertreten muss, um sich unangenehmen Fragen ausgesetzt zu sehen. Selbst wenn oftmals eine bessere Einsicht vorhanden ist, so fehlt dazu der Mut, um hier unbeirrt aufzutreten. Da setzt sich dann die Erkenntnis durch, dass soll doch im Zweifelsfall ein Gericht entscheiden. Dahinter kann man sich dann besser verstecken. Der Leser wird mir beipflichten, dass dies nicht die Lösung ist.

Die vorgesetzte Stelle kann und muss als Partei auftreten. Die Behördenvertreter können dann ebenfalls ihre Meinung vortragen, sie können einsichtig sein und die Position des Antragstellers einnehmen, oder aber sie können eine entgegengesetzte Meinung vertreten. Entscheiden müsste ein Gremium aus unabhängigen Personen und sachverständigen Fachleuten. Es müssen keine Richter sein, wobei diese auch nicht auszuschließen sind. Es müssen keine Bauingenieure sein, obwohl der Sachverstand des Technikers oft gefragt ist. Es müssen Personen sein, die unabhängig von den Antragstellern Entscheidungen treffen können und dazu auch den Mut mitbringen. Es müssen keine Kaufleute sein, obwohl das kaufmännische Denken Probleme lösen hilft. Dabei kann sachverständige Hilfe hinzugezogen werden. Jetzt könnte man antworten, dies haben wir ja bereits in den Schiedsverfahren bzw. Mediationsverfahren. Wenn man dies nicht vorbereitet und vereinbart, – und das ist in den meisten Fällen so – dann steht am Ende nur das Vorgehen nach VOB/B § 18 Nr. 2 zur Verfügung. Diese Anrufung sieht  jetzt vor, dass die vorgesetzte Stelle angerufen wird und das sind nun mal die Behördenvertreter. Dieser Weg bietet auf Dauer und für die Zukunft nicht die erwartete und erwünschte Lösung. Nähere Einzelheiten müssten sorgfältig beraten werden. Um das 18 Nr. 2-Verfahren wieder flott zu machen, benötigen wir an der entscheidenden Stelle - „die der auftraggebenden Stelle unmittelbar vorgesezte Stelle anrufen“ -  eine Überarbeitung. Diese Bandwurmformulierung verbreitet schon Unbehagen. Es wäre für alle Beteiligten an der Zeit zu lernen, dass Entscheidungsfreude kein Tabu darstellt. Dies gilt für Behördenvertreter wie auch für die Vertreter der Firmen. An dieser Stelle müsste ein Ausbildungsmarathon einsetzen, der sowohl die VOB und die Kommentarmeinung vermittelt. Weiterhin gehört dazu, Verantwortung zu übernehmen und die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Das zögerliche Hickhack muss verschwinden und wir benötigen dazu die Mitarbeiter, die für diese Projekte eingeteilt wurden.

Zum Schluss kommen wir auf die Brüder Grimm zurück, wenn sie trefflich formulieren: … und um das Feuer sprang ein gar zu lächerliches Männchen, hüpfte auf einem Bein und schrie: „Ach, wie gut, dass niemand weiss …“ Dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riss sich selbst mitten entzwei.

Ja, ein Schelm, der da denkt, da sei gerade das Behördenverfahren (unmittelbar vorgesetzte Stelle) zu Bruch gegangen.

... manchesmal schreibt das Leben selbst die märchenhaftesten Märchen!

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