BUNDESGERICHTSHOF:

Umgang mit erkennbaren Kalkulationsfehlern

Diese Entscheidung ist vor folgendem Hintergrund von besonderer Bedeutung: Das Vergaberecht enthält keine speziellen Regelungen zum Umgang mit Kalkulationsfehlern. Vielmehr gelten die allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften.

Rechtsanwalt Michael Werner, Zirngibl Langwieser Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Berlin

Das Urteil

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urteil vom 11.11.2014 – X ZR 32/14 – Folgendes entschieden:

1. Eine fehlerhafte Kalkulation liegt im Risikobereich des Bieters. Grundsätzlich hat der Bieter das Risiko seiner Fehlkalkulation zu tragen.

2. Der Auftraggeber ist nicht gehalten, von sich aus zu klären, ob ein Kalkulationsfehler vorliegt oder nicht.

3. Die Erteilung des Zuschlags auf ein von einem Kalkulationsirrtum beeinflusstes Angebot kann einen Verstoß gegen die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des betreffenden Bieters darstellen. Die Schwelle zu einem solchen Pflichtenverstoß ist überschritten, wenn dem Bieter aus Sicht eines verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung schlechterdings nicht mehr angesonnen werden kann, sich mit dem irrig kalkulierten Preis als einer auch nur annährend äquivalenten Gegenleistung für die zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zu begnügen.

Zur Sache

Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte Straßenbauarbeiten öffentlich ausgeschrieben. Bieter A hatte diese zu einem Preis von EUR 455.000 angeboten. Dieser Preis war, insbesondere auch angesichts der Aufwendungen, die für diese Arbeiten anfielen, auffallend günstig und lag ca. 27 % unterhalb des zweitgünstigsten Angebots. Nach dem Eröffnungstermin teilte A dem AG mit, dass er versehentlich in einer Position des LV einen falschen Mengenansatz für den Asphaltbinder gewählt habe. Statt der geforderten Abrechnungseinheit „Tonne“ (Menge: 4.125) sei die Abrechnungseinheit „qm“ und als Massenansatz 150 kg/qm zugrunde gelegt worden; der korrekte Einheitspreis müsse statt 9,60 EUR alleine zur Deckung der Herstellungskosten auf 59,60 Euro/t lauten, was auch dem Preisniveau der anderen Bieter entsprochen hätte. A bat deshalb darum, sein Angebot wegen dieses Irrtums aus der Wertung zu nehmen. Der AG entsprach diesem Ansinnen nicht, sondern erteilte dem A den Zuschlag. Nachdem A erklärt hatte, den Auftrag nicht auszuführen, erklärte der AG den Rücktritt vom Vertrag und beauftragte einen anderen Bieter. Die damit verbundenen Mehrkosten machte der AG als Schadensersatz gegen A geltend.

Der BGH gibt hier – ebenso wie die Vorinstanzen – Bieter A recht. Das OLG sei hier von der bisherigen Rechtsprechung des BGH zur Behandlung von Kalkulationsirrtümern ausgegangen, wonach der öffentliche Auftraggeber aufgrund des mit der Ausschreibung und der Abgabe von Angeboten entstehenden Vertrauensschutz begründenden Rechtsverhältnisses und dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsschluss verpflichtet sein könnte, den Bieter auf einen von ihm, dem Auftraggeber, erkannten Kalkulationsfehler hinzuweisen. Darüber hinaus könne es auch eine unzulässige Rechtsausübung (§ 242 BGB) darstellen, wenn der Empfänger eines Vertragsangebotes dieses annimmt und auf die Durchführung des Vertrags besteht, obwohl er erkannt oder sich treuwidrig der Erkenntnis verschlossen habe, dass es auf einem (erheblichen) Kalkulationsirrtum des Anbieters beruhe. In einem solchen Fall sei es nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gerechtfertigt, den AG entgegen eigener Interessen als verpflichtet anzusehen, an der Aufklärung eines Kalkulationsfehlers mitzuwirken.

Daneben verstoße der AG mit der Erteilung des Zuschlags gegen § 241 Abs. 2 BGB („Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten“). Diese Pflichten habe der AG verletzt, als er den Zuschlag auf das Angebot des A erteilte, obwohl ihm bekannt gewesen sei, dass dieses von einem erheblichen Kalkulationsirrtum beeinflusst war. Der Schutz aus § 241 Abs. 2 BGB sei nicht auf Einhaltung der spezifisch vergaberechtlichen, den Schutz der Gegenseite bezweckenden Bestimmungen über das Vergabeverfahren im GWB, der Vergabeverordnung und den Vergabe- und Vertragsordnungen (VOB/A) begrenzt, sondern schließe das gesamte vorvertragliche Verhalten im Vergabeverfahren ein. Da die Herbeiführung des Vertragsschlusses hier gegen § 241 Abs. 2 BGB verstoßen habe, könne der AG aus der Nichterfüllung des Vertrags durch A keine Ansprüche herleiten und keine vermeintlichen Mehrkosten aus der Ausführung des Auftrags durch einen Dritten gegen  A stellen.

Allerdings verpflichte die Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB den öffentlichen AG nicht, bei jedem noch so geringen Kalkulationsirrtum von der Annahme des Angebots abzusehen. Die Regelung sei kein Korrektiv, durch das sich Unternehmen bei Ausübung ihrer gewerblichen Tätigkeit von jeder Verantwortung für ihr eigenes geschäftliches Handeln freizeichnen könnten. Sie diene vielmehr als Ausprägung des Gedankens von Treu und Glauben dem Schutz eines redlichen Geschäftsverkehrs.

Die Schwelle zum Pflichtenverstoß durch Zuschlagserteilung zu einem kalkulationsirrtums- behafteten Preis sei im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe dann überschritten, wenn dem Bieter aus Sicht eines verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung schlechterdings nicht mehr angesonnen werden könne, sich mit dem irrig kalkulierten Preis als eine auch nur annährend äquivalenten Gegenleistung für die zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zu begnügen. Verhalte es sich so und führe der AG gleichwohl den Vertragsschluss herbei, könne der Bieter vertraglichen Erfüllungs- oder Schadensersatzansprüchen des AG ein Leistungsverweigerungsrecht entgegensetzen. Die Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB setze auch nicht erst dann ein, wenn dem betroffenen Bieter bei Durchführung des Auftrags zum Angebotspreis in absehbarer Zeit Insolvenz oder vergleichbar prekäre wirtschaftliche Schwierigkeiten drohten; die Verpflichtung, aus Rücksicht auf die Interessen des Bieters von der Zuschlagserteilung abzusehen, greife nicht erst ein, wenn dessen wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel stehe. Denn es wäre unbillig, das Eingreifen von Rücksichtnahmepflichten aus § 241 Abs. 2 BGB davon abhängig zu machen, ob eine existentielle Bedrohung des anderen Teils im Raum stehe. Vielmehr sei darauf abzustellen, ob zwischen dem Wert der für den Auftraggeber erbrachten Leistung und dessen Gegenleistung eine unbillige Diskrepanz herrsche. Daher müssten stets die Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden.

Soweit sich der AG auf eine Analogie zu den Regeln für die Behandlung von Angeboten mit unangemessen niedrigen Preisen (vgl. § 16 Abs. 6 Nr. 1 und 2 VOB/A) berufe, komme eine solche entsprechende Anwendung nicht in Betracht, weil sie anderen Schutzzwecken diene. Sie schütze nach ständiger Rechtsprechung in erster Linie den öffentlichen Auftraggeber und sei kein Instrument dafür, dem einzelnen Bieter die Folgen seines eigenen unauskömmlichen Angebots zu ersparen. Vielmehr sollten die öffentlichen Auftraggeber davor bewahrt werden, dass der Unternehmer die geschuldete Leistung in Folge der Unauskömmlichkeit der Vergütung mangelhaft oder nicht vollständig erbringe. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen dem Auftragnehmer die Vertragsdurchführung nicht mehr zugemutet werden könne, betreffe gänzlich anders gelagerte Interessen, was einen Rückgriff auf die für die Behandlung von Unterkostenangeboten geltenden Grundsätze entgegenstände. Auch aus der hier vom AG herangezogenen Rechtsprechung des BGH zu spekulativen Positionspreisen, die bei Mehrmengen ein wucherähnliches Missverhältnis zwischen Preis und Bauleistung nach sich ziehen könne, ließen sich keine tragfähigen Parallelen für die Bindung an kalkulationsirrtumsbehaftete Angebotspreise ziehen.

Anmerkung

Diese Entscheidung ist vor folgendem Hintergrund von besonderer Bedeutung: Das Vergaberecht enthält keine speziellen Regelungen zum Umgang mit Kalkulationsfehlern. Vielmehr gelten die allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften. Ein Kalkulationsfehler stellt nach der Rechtsprechung (siehe z.B. LG Bonn, Urteil vom 07.08.2009 – 1 O 91/09) einen unbeachtlichen Motivirrtum dar, der nicht zur Anfechtung berechtigt. Danach trägt der, der seinem Angebot einen bestimmten Preis zugrunde legt, auch das Risiko dafür, dass diese Kalkulation zutreffend ist. Dies hat zur Folge, dass der Bieter trotz seines Versehens von seinem Angebot nicht mehr loskommt und bis zum Ablauf der Bindefrist daran gebunden bleibt. Einseitige nachträgliche Modifikationen des Angebotes durch den Bieter sind während der Bindefrist ebenso ausgeschlossen wie die Rücknahme seines Angebotes. Die Angebotsbindung ist ein wichtiger Baustein für einen funktionierenden Wettbewerb. Ohne diese Bindung könnten Bieter bei der Angebotsabgabe spekulieren und sich in ungünstigen Konstellationen jederzeit wieder von ihrem Angebot lösen. Nach bisherigem Stand der Rechtsprechung liegt daher die Richtigkeit der Kalkulation im alleinigen Verantwortungsbereich des Bieters, sodass dieser an seinem fehlkalkulierten Angebot grundsätzlich festzuhalten hat.

Die Auftragserteilung stellt sich in einem solchen Fall für den Bieter dann meistens als absolutes Minusgeschäft dar und kann ihn im schlimmsten Fall sogar ruinieren. Die Situation ist aber auch für den Auftraggeber misslich, da es während der Auftragsausführung regelmäßig zu Kontroversen über die Leistungspflicht und häufig sogar zur Leistungsverweigerung des Auftragnehmers kommt. Gerade bei kritischen Aufträgen stellt dies ein Problem dar, zumal der Auftraggeber nach Auflösung des Vertrags nicht einfach den zweitplatzierten Bieter des alten Vergabeverfahrens beauftragen darf. Vielmehr muss er dann ein neues Vergabeverfahren durchführen – mit entsprechendem Kosten- und Zeitaufwand.

In seinem Urteil vom 11.11.2014 schafft nun der BGH etwas mehr Rechtsklarheit. Es bestätigt im Grundsatz zwar die grundsätzliche Unbeachtlichkeit eines Kalkulationsirrtums, der im Risikobereich des Bieters liegt. Der Auftraggeber ist auch nicht gehalten, von sich aus zu klären, ob ein Kalkulationsfehler des Bieters vorliegt oder nicht. Im vorliegenden Falle liegt jedoch ein Ausnahmefall vor. Wegen der bekannten und erheblich unauskömmlichen Preise kann der AG bei wirtschaftlicher Betrachtung vom Bieter nicht erwarten, dass dieser die Leistung für den -  keine annähernd adäquate Gegenleistung darstellenden - Preis erbringen muß. Der Auftraggeber hat eine ihm (durch § 241 Abs. 2 BGB) auferlegte Rücksichtnahmepflicht gegenüber dem Bieter, weshalb er auf dessen Angebot nicht den Zuschlag erteilen darf. Daher darf der AG hier weder die Erfüllung des Vertrags verlangen noch Schadensersatzansprüche wegen einer teureren Ersatzbeauftragung geltend machen. Die Nichtberücksichtigung des fehlkalkulierten Angebots ist nach BGH nur ausnahmsweise angezeigt, wenn der Kalkulationsirrtum offensichtlich und erheblich ist, und es für den Auftragnehmer unter den konkreten Umständen des Einzelfalles unzumutbar wäre, den Auftrag zu den versehentlich angebotenen Konditionen durchzuführen. Im Rahmen dieser Abwägung kommt nach BGH insbesondere dem konkreten Ausmaß des Kalkulationsirrtums große Bedeutung zu. Ein deutliches Indiz ist etwa ein (extrem) großer Abstand zwischen dem irrtumsbehafteten Angebot und dem zweitgünstigsten Angebot.⇥■

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