Ausschlussgründe, Bürgschaften
und die Mittelstandsklausel

Kommentare zur aktuellen Rechtsprechung für die Bauwirtschaft

Unser Rechtsexperte Rechtsanwalt Michael Werner vom Hauptverband der Deutschen Bauindustrie erläutert drei aktuelle Urteile mit hohem Praxisbezug. Themen sind die „Mittelstandklausel“, die Herausgabe der Bürgschaftsurkunde und ein Ausschluss wegen fehlender Typenangabe.

Zur Auslegung der neuen

„Mittelstandsklausel“ des

§ 97 Abs. 3 GWB

Der Vergabekammer des Saarlandes hat mit bestandskräftigem Beschluss vom 7. September 2009  – 3 VK 01/2009 – u. a. Folgendes entschieden:

1. Die neue „Mittelstandsklausel“ in § 97 Abs. 3 GWB soll durch ihre Neuformulierung grundsätzlich den Mittelstand stärken, bedarf aber der Auslegung und einer praktischen Anwendung bezogen auf das konkrete Ausschreibungsprojekt: Der in § 97 Abs. 3 Satz 2 vorgegebene Zwang zur losweisen Vergabe kollidiert mit § 97 Abs. 5 GWB (Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot).

2. Dem Bieter steht kein absoluter Anspruch auf losweise Vergabe zu; er hat lediglich einen Anspruch darauf, dass der Auftrageber von dem ihm aufgrund der Allgemeinen Grundsätze des § 97 GWB eingeräumten Beurteilungs- und Ermessenspielraum  in ermessensfehlerfreier Weise Gebrauch macht.

Ein öffentlicher Auftraggeber hatte im Rahmen eines Offenen Verfahrens die Gestellung und Erstverteilung von über 300.000 neuen Müllgroßbehältern für Abfall in 44 Kommunen des Saarlandes europaweit ausgeschrieben. Ausweislich der Begründung im Vergabevermerk wurde eine Aufteilung in Lose nicht vorgenommen; als Gründe wurden u. a. die Verringerung des Koordinierungsaufwandes bei der Erstverteilung, die erleichterte Durchsetzung von Gewährleistungs- und Garantieansprüchen sowie die Erleichterung wirtschaftlicherer Durchführung der Behälterbewirtschaftung angeführt.

Mitte Juli 2009 erhob die Antragstellerin mehrere Rügen. Sie war der Auffassung, das Vergabeverfahren missachte die neue Mittelstandsklausel, wie sie in der ab 24.4.2009 gültigen Fassung des GWB in § 97 Abs. 3 ihren Niederschlag gefunden habe.

Im folgenden Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer (VK) war insbesondere die Auslegung des neuen § 97 Abs. 3 GWB umstritten.

Die VK hat den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin als unbegründet zurückgewiesen. Die von der AG gewählte Gesamtvergabe stehe mit der neuen Mittelstandsklausel des § 97 Abs. 3 GWB in Einklang und verletze die Antragstellerin nicht in ihren (subjektiven) Rechten aus § 97 Abs. 7 GWB. Die Kammer verweist darauf, dass eine Rechtsprechung der Vergabekammern bzw. OLG-Senate bislang zu § 97 Abs. 3 GWB-neu noch nicht existiere. Sie verweist daher u. a. auf die Gesetzesbegründung zu § 97 Abs. 3 GWB: „Um es für kleinere und mittlere Unternehmen zu erleichtern, sich um größere öffentliche Aufträge erfolgreich zu bewerben, seien öffentliche Aufträge in Zukunft regelmäßig in Losen zu vergeben. Eine Gesamtvergabe solle nur noch dann zulässig sein, wenn eine Aufteilung unwirtschaftlich oder aus technischen Gründen unmöglich sei.“

Die Kammer verweist auf die Erwägungsgründe der EU-Richtlinie 2004/18/EG vom 31.3.2004, deren Umsetzung die GWB-Novelle primär dienen solle und wägt insbesondere Satz 2 und 3 des § 97 Abs. 3 GWB gegeneinander ab: Danach sind Leistungen in der Menge aufgeteilt (Teillose) und getrennt nach Art oder Fachgebiet (Fachlose) zu vergeben. Allerdings dürfen mehrere Teil- oder Fachlose zusammen vergeben werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern. Nach Auffassung der Kammer muss diese Relativierung auch bei der Ausgestaltung des Auftrags vor dessen Ausschreibung als Gesamtvergabe und nicht nur bei der späteren Vergabeentscheidung greifen. Wenn wirtschaftliche oder technische Gründe es rechtfertigten, mehrere Teil- oder Fachlose zusammen an einen Bieter zu vergeben, müsse es auch zulässig sein, aus diesen Gründen im Einzelfall von vornherein eine Gesamtvergabe ins Auge zu fassen. Der Auftraggeber habe dabei die Interessen des Mittelstandes mit seinen eigenen Interessen an einer wirtschaftlichen Vergabe abzuwägen. Auch § 97 Abs. 3 (neu) GWB schreibe den Grundsatz der losweisen Vergabe weiterhin fest, verlange im Einzelfall aber vom Auftraggeber keine marktunübliche Trennung des Auftrags in Einzelteile oder eine unwirtschaftliche Zersplitterung des Auftrags. Der Auftraggeber habe zwar die Förderung des Mittelstandes zu beachten, aber nur „vornehmlich“, d. h. nicht um jeden Preis, denn als öffentlicher Auftraggeber unterliege er ebenso den Grundsätzen der sparsamen und wirtschaftlichen Haushaltsführung (§ 97 Abs. 5 GWB), dem Transparenzgrundsatz (§ 97 Abs. 1 GWB) und auch dem Gleichbehandlungsgebot (§ 97 Abs. 2 GWB). Korrespondierend dazu stehe dem Bieter kein absoluter Anspruch auf losweise Vergabe zu; er habe insoweit lediglich einen Anspruch darauf, dass der Auftraggeber von dem ihm aufgrund der  allgemeine Grundsätzen des § 97 GWB eingeräumten Beurteilungs- und Ermessenspielraum in ermessensfehlerfreier Weise Gebrauch mache. Dabei stehe dem AG bei seiner Entscheidung über eine Losaufteilung im Einzelfall eine „Einschätzungsprärogative“ zu.

Nach Auffassung der VK sei der AG bei der von ihm getroffenen Entscheidung, den Auftrag nicht losweise aufzuteilen, keine Beurteilungs- bzw. Ermessensfehler unterlaufen bzw. irgendwelche Abwägungsdefizite festzustellen. Aus diesem Grunde stehe der Antragstellerin ein Anspruch auf Aufhebung des Vergabeverfahrens wegen Verletzung des Grundsatzes der losweisen Unterteilung des Auftrages nicht zu.

 

Anmerkung

Der o. g. Beschluss der VK des Saarlandes betrifft zwar nicht direkt den Bau, ist aber deshalb besonders zu beachten, da es die erste – bestandskräftige – Entscheidung zur höchst umstrittenen Frage der Auslegung des neuen § 97 Abs. 3 GWB (sog. „Mittelstandsklausel“) darstellt. Hintergrund hierfür ist, dass ab Ende April 2009 viele – insbesondere kommunale – Auftraggeber dazu übergegangen sind, wegen § 97 Abs. 3 GWB keine Aufträge mehr zusammengefasst zu vergeben. Die VK stellt nun eindeutig fest, dass dies mit dem neuen § 97 Abs. 3 GWB – auch vom Gesetzgeber – nicht beabsichtigt war. Vielmehr ist auch zukünftig eine zusammengefasste Vergabe möglich – allerdings mit entsprechend ausreichender Begründung im Vergabevermerk.

Zwischenzeitlich liegt auch ein Beschluss der VK Münster (vom 7. Oktober 2009 - VK 18/09) vor, die die Ansicht der VK Saarland inhaltlich teilt. Allerdings ist diese Entscheidung noch nicht bestandskräftig. Es bleibt abzuwarten, wann und wie die ersten Entscheidungen der Vergabesenate der OLG hierzu aussehen werden.

 

Herausgabe der Bürgschaftsurkunde nach Verjährung des Anspruchs gegen den Bürgen

Das OLG Karlsruhe hat mit Urteil vom 24. November 2009 – 8 U 46/09 – (www.ibr-online.de) Folgendes entschieden:

Verlässt der Auftraggeber nach Kündigung des Vertrags das Erfüllungsstadium, tritt der die Fälligkeit der Bürgschaftsforderung begründende Sicherungsfall auch ohne Abnahme ein. Nach Ablauf der damit beginnenden Verjährungsfrist ist die Bürgschaftsurkunde herauszugeben.

Im Jahre 2002 stellte eine Bank eine Bürgschaft gemäß dem Formular EFB Sich 1 des Vergabehandbuchs des Bundes (Ausgabe 2000). Wegen nicht eingehaltener Ablaufwerte der herzustellenden Kläranlage kündigte der Auftraggeber (AG) 2003 den Vertrag, lehnte die weitere Erfüllung ab, avisierte die Feststellung der erbrachten Leistungen, erklärte die Aufrechnung wegen eigener mangelbedingter Gegenansprüche und meldete die Inanspruchnahme der bürgenden Bank an. Letzteres erfolgte 2004. Eine Abnahme der Leistungen des Auftragnehmers (AN) war unstreitig nicht erfolgt. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des AN 2007 verlangt der Insolvenzverwalter vom AG aus - von der Bank abgetretenem Recht - mit in 2008 erhobener Klage Herausgabe der Bürgschaftsurkunde: Der Anspruch gegen den Bürgen sei verjährt. Die Einrede der Verjährung habe die Bank vorprozessual geltend gemacht. Das OLG gibt hier der Klage  des Insolvenzverwalters statt. Mit dem insoweit eingetretenen Sicherungsfall sei die Bürgschaftsforderung fällig geworden.

Maßgeblich sei der Gleichlauf des Verjährungsbeginns zwischen dem Anspruch aus der Bürgschaft und dem Hauptanspruch. Es käme nicht darauf an, dass der Bürge vom AG zur Zahlung aufgefordert worden sei; dieser Anspruch sei in drei Jahren nach § 195 BGB - zum 31.12.2006 – verjährt. Die auch nach einer Vertragskündigung erforderliche Abnahme sei zwar nicht ausdrücklich erklärt. Die Abnahmewirkungen seien aber aufgrund des Schreibens des AG herbeigeführt worden, weil damit unzweifelhaft in ein Abrechnungsverhältnis übergegangen worden sei. Dass Ansprüche in unverjährter Zeit klageweise gegen den AN geltend gemacht worden seien, führe – bezogen auf den Anspruch gegen den Bürgen – nicht zur Hemmung oder zum Neubeginn der Verjährung.

 

Anmerkung

Der vorliegende Fall ist wieder ein Beispiel dafür, dass sich das Risiko unterschiedlicher Verjährungsfristen für die Sicherheit und den gesicherten Hauptanspruch realisiert haben, das sich aus der Schuldrechtsreform im Jahre 2002 ergeben hat. Insoweit sind – im beiderseitigen Interesse – Vereinbarungen erforderlich, die einen Gleichlauf der beiden Verjährungsfristen begründen.

 

Produktspezifische Ausschreibung: Ausschluss wegen fehlender Typenangabe?

Das OLG Düsseldorf hat mit Beschluss vom 14. Oktober 2009 – Verg 9/09 (www.ibr-online.de) Folgendes entschieden:

1. Ein Angebot, in dem eine geforderte Typenangabe fehlt, darf nicht ausgeschlossen werden, wenn ein Verstoß gegen das Gebot der produktneutralen Ausschreibung vorliegt.

2. Ist ein Verweis auf ein Leitfabrikat unzulässig, wird er auch nicht durch den Zusatz „oder gleichwertig“ geheilt.

Bei einer europaweiten Ausschreibung nach der VOB/A waren in einer Leistungsposition sog. Pollerleuchten eines bestimmten Fabrikats „oder gleichwertig“ gefordert. Die Bieter sollten in einer Leerzeile Angaben zum angebotenen Fabrikat und Typ zu machen. Bieter A gab in seinem Angebot zwar das Fabrikat eines Alternativproduktes an, benannte jedoch nicht den Typ der angebotenen Leuchte. Der öffentliche Auftraggeber wertete das Angebot dieses Bieters dennoch. Im Rahmen eines von diesem Bieter eingeleiteten Nachprüfungsverfahrens war der öffentliche Auftraggeber allerdings der Ansicht, das Angebot müsse ausgeschlossen werden.

Das OLG hält einen  Ausschluss des Angebotes des Bieters A für unzulässig. Die Angabe des Leitfabrikats (in der entsprechenden Position) verstoße gegen § 9 Nr. 10 VOB/A. Danach dürfe in der Leistungsbeschreibung nur dann auf eine bestimmte Produktion oder Herkunft oder dergleichen verwiesen werden, wenn dies durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt sei. Eine derartige Rechtfertigung sei hinsichtlich der ausgeschriebenen Pollerleuchten nicht ansatzweise erkennbar. Die Aufnahme des Zusatzes „oder gleichwertig“ führe aus dem Verbot der produktspezifischen Ausschreibung nicht hinaus. Ein solcher Zusatz in Verbindung mit der Angabe eines Leitfabrikats sei nur zulässig, wenn der Auftragsgegenstand nicht hinreichend genau und allgemein verständlich beschrieben werden könne. Dies sei vorliegend nicht der Fall; die ausgeschriebenen Pollerleuchten hätten hinsichtlich aller Anforderungen an ihre Beschaffenheit und Eigenschaften ohne Weiteres abstrakt beschrieben werden können.

Der Bieter A habe seine Rügeobliegenheit (aus § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB) nicht verletzt. Ihm sei der Rechtsverstoß nicht bekannt gewesen. Er sei vielmehr irrtümlich entsprechend einer verbreiteten, nichtsdestoweniger fehlerhaften Annahme davon ausgegangen, dass die Angabe des Leitfabrikats durch den Zusatz „oder gleichwertig“ gewissermaßen geheilt worden sei. Da die fehlende Typenangabe im Angebot des Bieters A die Position mit der unstatthaften produktspezifischen Ausschreibung betroffen habe, dürfe sein Angebot nicht ausgeschlossen werden. Der Ausschluss habe vielmehr auf einem der Vergabestelle zuzurechnenden Verstoß gegen das Gebot zu produktneutraler Ausschreibung beruht. Wer hiergegen verstoße, erwerbe keine rechtliche Handhabe, Angebote, die im Zuge einer solchen Ausschreibung nicht alle verlangten Angaben oder Erklärungen enthielten, von der Wertung auszunehmen.

 

Anmerkung

Es ist zu hoffen, dass die genannte Entscheidung des OLG Düsseldorf zu der Erkenntnis auf Auftraggeberseite führen wird, dass der Zusatz „oder gleichwertig“ kein Allheilmittel darstellt. Bietern ist dagegen zu empfehlen, den Verstoß gegen das Verbot der produktneutralen Ausschreibung spätestens bis zur Angebotsabgabe zu rügen, um nicht Gefahr zu laufen, eine Verletzung der Rügeobliegenheit vorgehalten zu bekommen.

Die erste bestandskräftige Entscheidung zur umstrittenen Mittelstandsklausel!

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