Realitätsmodellierung auf Knopfdruck

Photogrammetrie in der Bestandserfassung

Zur Dokumentation der Standortbedingungen bei der Sanierung der London Bridge Station setzt die britische Costain Gruppe auf ContextCapture von Bentley Systems. Mit der Software können anhand von Fotos detaillierte 3D-Modelle erstellt werden.

Fünfzig Haltestellen umfasst die britische Thameslink-Linie: Die 225 km lange Eisenbahnstrecke führt von Norden nach Süden und verbindet Bedford, London und Brighton. Im Rahmen des Thameslink-Programmes soll diese Verbindung nun modernisiert und weiter ausgebaut werden. Der wichtigste und zugleich schwierigste Teil des Projektes umfasst die komplexe Sanierung der London Bridge Station: Auf dem stark frequentierten Bahnhof sollen neue Gleis- und Signalanlagen entstehen.

Sanierungspläne der Eisenbahn

Um die Sicherheit, Zuverlässigkeit und Effizienz von Bahnreisen innerhalb der Stadt London und durch das Vereinigte Königreich zu verbessern, hat Network Rail die Verantwortung für das von der Regierung geförderte Thameslink-Projekt im Wert von 6,5 Mrd. GBP übernommen. Das Projekt wurde 2009 ins Leben gerufen und soll im Januar 2018 abgeschlossen sein. Zu diesem Zeitpunkt sollen zu Spitzenzeiten alle zwei bis drei Minuten neue Großraumzüge durch Zentral-London fahren.

Zu diesem riesigen Projekt zur Verbesserung des Bahnverkehrs gehören die Verlängerung von Bahnsteigen, Bahnhofsanierungen, neue Eisenbahninfra-
struktur und zusätzliche Schienenfahrzeuge. Es umfasst gemeinsame Bemühungen von Eisenbahngesellschaften im UK, Architekten, Engineering- und Konstruktionsunternehmen sowie Bauunternehmen, die alle von Network Rail verwaltet werden.

Im Mittelpunkt der Thameslink-Initiative steht die Sanierung der London Bridge Station, des größten Bahnhofs im UK mit dem vierthöchsten Fahrgastaufkommen. Hier werden jährlich mehr als 56 Mio. Fahrgäste abgefertigt. Zu den Plänen für die London Bridge Station gehört die Sanierung der Bahnhofshalle, um den Bahnhof zum ersten Mal zu einer Einheit zusammenzufassen, sodass die Fahrgäste von einem Ort aus Zugang zu allen Bahnsteigen haben. Außerdem sollen neue Geschäfte und Bahnhofseinrichtungen gebaut werden. Nach der Fertigstellung wird die neue Bahnhofshalle die größte des Landes sein – größer als das Fußballfeld im legendären Wembley Stadion.

Costain Group beauftragt

Um die Sanierung der London Bridge Station zu verwalten, hat Network Rail die Costain Group (Costain) beauftragt, den im UK führenden Anbieter von Engineering-Lösungen. Dem Unternehmen wurde ein Vertrag über 400 Mio. GBP erteilt, bei dem Costain für die Bereitstellung detaillierter Entwurfs- und Sanierungspläne verantwortlich ist. „Unser Schwerpunkt liegt auf dem Entwurf, sodass wir eine erstklassige London Bridge Station schaffen können, die die Infrastruktur der Hauptstadt erweitert und die Reisen von hunderttausenden Fahrgästen verbessert“, erklärt Andrew Wyllie, Hauptgeschäftsführer von Costain.

Herausforderungen bei der Sanierung

Allein die Größe der Sanierung der London Bridge Station mit 15 neuen Bahnsteigen stellte zahlreiche Anforderungen – von der Neukonfiguration der Gleise im Bahnhof und der Installation neuer Signalgebungsanlagen bis hin zum Abbau vorhandener Bahnsteige und der Entfernung des vorhandenen Dachs. Während dieser Arbeiten musste der Bahnhof betriebsfähig bleiben. Um die Beeinträchtigungen der Fahrgäste so gering wie möglich zu halten, wurde beschlossen, das Projekt in neun Phasen fertigzustellen. Um diesen phasenweisen Bauansatz umzusetzen, brauchten Costain und das Projektteam zuverlässige Daten über den fast 200 Jahre alten Standort.

Die London Bridge Station wurde ursprünglich zwischen 1836 und 1839 erbaut und beherbergte zahlreiche Bögen aus Mauerwerk, die überprüft werden mussten, um den optimalen Ansatz für den Entwurf und den Bau der neuen Bahnhofshalle festlegen zu können. Um diese Informationen zu erhalten, brauchte Costain wirtschaftliche Untersuchungstechniken, die eine präzise 3D-Darstellung der alten Strukturen generieren konnten. Auf Basis der Daten konnte das Unternehmen den Untergrund verstehen und den Sanierungsbedarf abschätzen. Das gestattete den Inter-essensvertretern Entscheidungen innerhalb eines straffen Zeitplans zu treffen.

Photogrammetrie im Vergleich zum Laserscan

Jahrelang waren Laserscanner die bevorzugte Methode zur Erfassung digitaler Daten, um Standortbedingungen mit präziser Genauigkeit zu untersuchen und zu dokumentieren. Laserscans bieten die Möglichkeit, eine Punktewolke zu erfassen, die so dicht ist, dass sich ein 3D-Bild daraus generieren lässt. Die Punkte im Scan erhalten zudem 3D-Koordinaten. Diese fast geographisch codierte Darstellung kann an das Entwurfsteam weitergegeben werden.

Costain hat in diese Technologie investiert, um zahlreiche Projekte erfolgreich abzuwickeln. Angesichts des Alters der Strukturen des Bahnhofs und den Einschränkungen beim Laserscanning (ein Prozess, dessen Fertigstellung Monate in Anspruch genommen hätte), experimentierte Costain Diplom-Vermesser Richard Bath mit Photogrammetrie. Es sollte sichergestellt werden, dass jeder Ziegel in den bestehenden Strukturen mit der neuen Fassade übereinstimmt.

Zur Erfassung der Oberfläche konnte dank der Methode mit einer einfachen Kamera ein dichterer Überblick erzeugt werden, als dies mit Laserscans möglich wäre. Außerdem konnten durch die Farbaufnahmen schnell Ziegel und Mörtelfugen unterschieden werden. Hinzu kam, dass die Methode, angesichts der Schnellig-keit und Größe einer Digitalkamera oder eines Smartphones, die Arbeitsabläufe auf der Baustelle weniger störte. Die Arbeiter mussten jeden Teilbereich nur für wenigen Minuten verlassen während Bath ein Video aufnahm oder Fotos erstellte. Mit ContextCapture konnte Costain die Fotos zu akkuraten 3D-Rastermodellen zusammenfügen, die Entscheidungsfindungen vereinfachten und die bestehenden Bedingungen dokumentierten. Die erfassten Daten können nicht nur bei der Sanierung der London Bridge Station, sondern auch für Wartungsarbeiten während der Betriebsphase verwendet werden.

Vereinfachter Arbeitsablauf

Ein weiterer Vorteil der Photogrammetrie ist, dass sie die Arbeitsabläufe beschleunigt. Während für Laserscans hochkompetente, gut geschulte Techniker notwendig sind, um eine virtuelle 3D-Darstellung anzufertigen, ist für die Photogrammetrie nur eine Kamera erforderlich, die ein paar Fotos aufnimmt. ContextCapture erzeugt daraus automatisch das 3D-Realitätsmodell. Costain hat einen grundlegenden Arbeitsablauf in vier Schritten angewendet:

1. Kennzeichnung von Passpunkten (GCPs) des betreffenden Bereichs und Sicherstellung, dass sie auf den Fotos gut sichtbar sind,

2. Aufnahme von Bildern aus unterschiedlichen Winkeln und Erhöhungen um das Gebiet herum,

3. Untersuchung der GCPs (es sind mindestens drei erforderlich, um das Modell skalieren und geographisch codieren zu können) und

4. Verarbeitung der Fotos und GCPs in Kombination mit ContextCapture, um das fertige Modell für verschiedene lieferbare Ergebnisse zu erzeugen.

Die beiden ersten Schritte können von jeder Person nach fünf Minuten Schulung zur Bestimmung der besten Methode für die Kennzeichnung von GCPs und die Aufnahme der Fotos für opti-male Ergebnisse umgesetzt werden.

Der letzte Schritt verwendet die Software von Bentley zur Erfassung der Realität und ist vollständig automatisiert, bis auf die relativ kurze Zeit, die der Benutzer braucht, um die Bilder hochzuladen und die GCPs zu identifizieren. Während die allgemeine Verarbeitungszeit in Abhängigkeit von der Anzahl der Fotos und der GCPs variiert, kann der gesamte Arbeitsablauf von der Aufnahme der Fotos, der Untersuchung der GCPs bis zur Verarbeitung innerhalb einer Stunde stattfinden.

Automatische 3D-Rekonstruktion

Beim Vergleich der Präzision der Photogrammetrie mit der von Laserscans stellte Bath fest, dass es für viele Anwendungen am Standort – wie beispielsweise den Erdaushub – Differenzen von wenigen Millimetern gab. Während die Präzision des fertigen 3D-Realitätsrasters hauptsächlich vom Umfang der aufgenommenen Fotos abhängig ist, ist es nicht notwendig, in eine teure Kamera zu investieren. Der gesamte Prozess von der anfänglichen Aufnahme von Fotos bis hin zum 3D-Modell ist automatisiert. Für das Sanierungsprojekt der London Bridge Station erzeugte er ausreichend präzise Ergebnisse, um die Kosten und andere Projektleistungen zu optimierten.

Die Photogrammetrie sparte Zeit bei der Datenerfassung und ließ den Engpass wegfallen, dass ein Scanner von zwei Dutzend Prüfern geteilt werden muss. Darüber hinaus ist die Verwendung einer Kamera sehr viel kostengünstiger als der Aufwand für einen Laserscanner. Die Photogrammetrie und ContextCapture stellten eine sichere, zuverlässige und kontaktlose Überprüfungstechnik dar, mit der Arbeitsabläufe verbessert und die Effizienz gesteigert werden konnten. Die Verwendung der Software von Bentley für die Sanierung der London Bridge Station sparte Zeit und Kosten, während die Wahrscheinlichkeit einer Fehlinterpretation verringert wurde.

Gleichzeitig wurde die Zuverlässigkeit verbessert, ebenso wie die Entscheidungsfindung für diese Sanierungsmaßnahme der Bahn. Bath erklärt dazu: „ContextCapture bietet Bentley-Anwendern wie Costain eine Softwareumgebung, die die Verwendung der 3D-
Realitätserfassung auf einer Baustelle unterstützt. Mit einem einfachen Smartphone besitzt das gesamte Personal nach minimaler Schulung die Möglichkeit, den Baufortschritt visuell ansprechend in 3D zu dokumentieren. ContextCapture verändert die Daten-
erfassung vor Ort.“

Bentley Systems, Inc.

www.bentley.com

Projektzusammenfassung

Organisation: Costain Group
Ort: London, England, UK
Projektziele:

– Detaillierter Entwurf und Bauarbeiten für die Sanierung der London Bridge Station

– Bestimmung der effizientesten und wirtschaftlichsten Methode für die Vermessung und Dokumentation vorhandener Standortbedingungen des 180 Jahre alten Bahnhofs

– Bereitstellung präziser 3D-Daten für die Beschleunigung und Verbesserung der Entscheidungsfindung für eine optimale Bauplanung

Verwendete Produkte: ContextCapture

Fakten im Überblick

– Das Thameslink-Projekt ist eine Eisenbahnmaßnahme über 6,5 Mrd. GBP und wird nach der Fertigstellung 2018 das Reisen mit der Bahn im UK verändern, indem die Fahrgastkapazität erhöht und die Reisezeiten verkürzt werden.

– Costain wurde mit der Sanierung des 180 Jahre alten Bahnhofs mit einem Auftragswert von 400 Mio. GBP beauftragt, einschließlich des Baus der größten Bahnhofshalle des Landes.

– Mit ContextCapture konnte Costain innerhalb weniger Stunden ein 3D-Realitätsraster erstellen und damit Zeit und Kosten bei dem Projekt sparen, während gleichzeitig der Einfluss der Untersuchungen auf den restlichen Standort auf einem Minimum beschränkt wurde.

– Die Sanierung der London Bridge Station erfüllt die zunehmenden Transportanforderungen, indem die Fahrgast- und Schienenkapazität am Bahnhof um 40 Prozent erhöht wird.
Nach der Fertigstellung 2018 wird der wiederhergestellte Bahnhof viele regionale Ziele rund um London zum ersten Mal verbinden.

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