Standpunkt: Psychische Erkrankungen

Die Sache mit der Kollegialität

Zum ersten Mal stehen die psychischen Erkrankungen mit 13,2 % aller Krankentage an dritter Stelle in Deutschland, meldete unlängst der BKK Bundesverband, die Spitzenorganisation der Betriebskrankenkassen. Was treibt diese Entwicklung? Der Druck des globalisierten Wettbewerbs, der auch immer mehr kleinere und kleine Betriebe in jeder Hinsicht zu mehr Druck zwingt? Die holprigen Führungskünste der Inhaber und Vorgesetzten, die statt Lust an der Arbeit Frust auslösen? Die angespannte, verunsichernde betriebliche Atmosphäre, die sich aus all dem ergibt?

Reine Nervensache?

All das zerrt an den Nerven, bringt die Seele in Bedrängnis und laugt aus. Doch da ist noch etwas, das zu schaffen macht: die ungezügelten Launen und Stimmungen, die Egozentrik und die Aggressionsbereitschaft, die mangelnde Hilfs- und Unterstützungsbereitschaft im Kollegenkreis. In Gesprächen wird all das immer wieder beklagt. Befeuert wird der Unmut über das unkollegiale Verhalten durch die eigene Erwartungshaltung. Kollegialität wird ganz selbstverständlich erwartet. Zudem häufig noch in der Idealvorstellung. Aber die Selbstverständlichkeit dieser Erwartung kann nur ins Leere laufen.

Und so entpuppen sich die unerfüllten Vorstellungen, mit denen anscheinend Viele zur Arbeit gehen, als eine zusätzliche Quelle seelischer Pein: von den verständnisvollen und um einen bemühten Kollegen, dem umsichtigen Chef, der reizvollen Aufgabe, den umgänglichen Kunden, dem pünktlichen Feierabend, bis hin zur fraglosen Anerkennung der eigenen Leistung. Und, nicht zu vergessen, der steten Liebenswürdigkeit der eigenen Person. Aus dieser Perspektive auf das Problem mit den anschwellenden Fehltagen infolge psychischer Erkrankungen geschaut, spielt dabei auch eine gewisse Wirklichkeitsausblendung mit; eine unrealistische Erwartungshaltung. Die Gesamtheit der heutigen Arbeitsumstände lässt für die Erfüllung dieser Erwartung einfach keinen Raum mehr.

Natürlich kann man das beklagen und sich daran wund reiben. So menschlich dieses Lamento ist, so wenig hilfreich ist es aber auch. Wird doch dabei kaum oder gar nicht bedacht, dass das, was auf der Mikroebene des Persönlichen tagtäglich in einem selbst brodelt, das ganze Gewirr der Stimmungs- und Befindlichkeitsschwankungen, und was einen mal als liebenswürdig und dann wieder als unausstehlich in den Augen der anderen erscheinen lässt, dass all das auch auf der Makroebene des beruflichen Miteinanders das Geschehen mit bestimmt.

Falsche Erwartungen?

Es gilt also einzusehen: beim Aufschrei der Psyche spielen auch falsche Erwartungen und Selbsttäuschung eine Rolle. Was im Umkehrschluss die Überlegung nahelegt: Will ich seelisch unbelasteter arbeiten, muss ich mit einer anderen Einstellung und korrigierten Erwartungen zur Arbeit gehen. Das ist keine neue, ganz im Gegenteil, das ist eine uralte, leider aber in ihrer entlastenden Wirkung viel zu wenig beherzigte Erkenntnis. Seit der griechisch-römischen Antike steht die Erkenntnis im Raum: Nicht die Dinge und Umstände an sich sind belastend, die Belastung ergibt sich aus der persönlichen Einstellung dazu.

Die heutige, mit Hingabe gepflegte Orientierung an dem, was eigentlich und vor allem wie etwas eigentlich sein sollte, sie erinnert ein wenig an die Märchenfigur Hans-Guck-in-die-Luft, der diese Sichtweise bekanntlich nicht gut bekam. Diese Orientierung führt nur noch tiefer in das Psychodilemma hinein. Worauf es aber ankommt, ist, auf ganz persönlicher Ebene einen Weg zu finden, der ein Stück weit aus ihm heraus führt.

Im Augenblick eines als gemein empfundenen „kollegialen“ Verhaltens sollte es (deshalb) also weniger um die Frage gehen, ob das Verhalten des Kollegen (oder auch des Vorgesetzten) unkorrekt war und meinen Erwartungen widersprach. Wichtiger zum psychischen Selbstschutz ist die Frage: Wie gehe ich damit um? Wie sorge ich dafür, dass mich dieses Ereignis nicht immer wieder vollkommen aus der Fassung bringt?

Die Antwort kann nur lauten: Ich muss meine Einstellung und die sich daraus ableitenden Erwartungen zu dem Menschlich-allzu-Menschlichen um mich herum ändern. Und das heißt, ich muss alle diese „lieben“ Mitbewohner meiner Arbeitswelt erstens so nehmen wie sie nun in ihrer menschlichen Unvollkommenheit einmal sind. Und das gelingt mir zweitens am nervenschonendsten, wenn ich mich geistig und ruhig auch mal tatsächlich vor den Spiegel stelle und mir eingestehe: Die absolute Verhaltensglanzleistung lieferst Du ja auch nicht jeden Tag ab.

Erkenne dich selbst!

„Erkenne Dich selbst!“, die berühmte Inschrift am Tempel des Apollon an der Orakelstätte zu Delphi, ist auch heute noch ein zuverlässiger Seelenschutz. Aus dieser Selbsterkenntnis heraus nicht nur den Splitter im Auge des anderen, sondern auch den Balken im eigenen zu sehen und entsprechend das eigene Denken zu korrigieren, lässt kollegial entlasteter leben. Selbsterkenntnis macht erfahrungsgemäß macht toleranter. Und Toleranz, das Beobachten des Treibens der anderen aus einer milden, weil von Selbsterkenntnis getragenen Nachsicht, entspannt. Und weiß nicht jeder, welch erholsame Wirkung von einem weniger aufgewühlten Innenleben ausgeht?

Je weniger Öl mit wirklichkeitsfernen Erwartungen und den daraus meist folgenden eigenen unbesonnenen „Wie-Du-mir-so-ich-Dir“-Reaktionen ins Feuer des kollegialen Umgangs gegossen wird, desto weniger können zwischenmenschlich-kollegia­­le Brandherde die Gefahr befeuern, auszubrennen. Je besonnener selbst agiert wird, desto schneller glätten sich erfahrungsgemäß die Wellen um einen herum. Je weniger das fremde Verhalten nicht als Enttäuschung eigener Erwartungen registriert wird, desto leichter möglich wird das entspanntere kollegialere Zusammenspiel.

Das grundsätzliche Problem der heutigen Arbeitsumstände ist damit nicht gelöst. Dazu bedarf es auf höherer Ebene anderer Einsichten und Schritte. Doch Kollegialität so verstanden und gelebt kann auf das Ganze eines Betriebes bezogen schon eine beachtliche Wirkung auslösen. In Sachen Gesundheit wie Leistung.

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