Behinderungen wegen Winterwetters?

Die eigenen Ansprüche sachgerecht ermitteln

In der Baupraxis bestehen immer wieder Unsicherheiten, welche Ansprüche des Auftragnehmers aus witterungsbedingten Einflüssen im VOB-Vertrag resultieren. In diesem Beitrag wird gezeigt, welche Voraussetzungen für die Berücksichtigung von Witterungseinflüssen in einem ansonsten ungestörten Bauablauf bestehen und wie etwaige Ansprüche sachgerecht ermittelt werden können.

Regelung der VOB/B

Der § 6 Nr. 2 Abs. 2 VOB/B lautet: „Witterungseinflüsse während der Ausführungszeit, mit denen bei Abgabe des Angebots normalerweise gerechnet werden musste, gelten nicht als Behinderung.“ Um festzustellen, wann ein Winter als Behinderung gilt, kommt es somit vor allem auf die Begriffe „Ausführungszeit“, „Witterung“, „Witterungseinflüsse“ und „normalerweise“ an.

 

Was heißt „Ausführungszeit“?

Es sind nur diejenigen Witterungseinflüsse einzukalkulieren, die während der Ausführungszeit erwartet werden. Dabei ist unklar, ob die Gesamtausführungszeit oder die Ausführungszeit der einzelnen Vorgänge im Bauablaufplan relevant ist. Innerhalb der Vorgaben des Auftraggebers (AG) kann der Auftragnehmer (AN) den Bauablauf unter Beachtung der vertraglichen Vorgaben nach eigenem Gutdünken frei gestalten (vgl. Kapellmann/Messerschmitt, § 6 VOB/B, Rdn. 1). Dabei wird der AN insbesondere auf einen kontinuierlichen Arbeitsablauf unter Berücksichtigung aller technologischen, kapazitativen und räumlichen Abhängigkeiten, aber gerade auch auf die witterungsbedingten Ausfallzeiten achten: Im Winter werden nach Möglichkeit keine witterungsabhängigen Leistungen geführt. Der AN kann damit nur diejenigen Witterungseinflüsse berücksichtigen, die auf die bei Angebotslegung konkret im Winter liegenden Vorgänge einwirken können. „Ausführungszeit“ ist also immer nur die konkrete jahreszeitliche Lage der einzelnen Vorgänge im Bauablaufplan.

 

Was heißt „Witterung“?

Witterung ist der durchschnittliche Charakter des Wetterablaufs eines bestimmten Zeitraums, der u. a. durch die folgenden potenziell störenden meteorologischen Kategorien definiert wird (vgl. Wetterlexikon des DWD, www.dwd.de):

An einem Frosttag („TN“) unterschreitet das Minimum der Lufttemperatur 2 m über dem Erdboden den Gefrierpunkt, während an einem Eistag das Maximum der Lufttemperatur 2 m über dem Erdboden (TX) unter 0°C liegt, also Dauerfrost herrscht. Jeder Eistag ist damit auch ein Frosttag.

An Sturmtagen beträgt das Maximum der Windgeschwindigkeit (FX) im größten während auftretenden 10-Minuten-Mittel, der Spitzenböe, mindestens 17,2 m/s.

Die Niederschlagshöhe (RR) gibt an, wie hoch flüssiger Niederschlag eine horizontale Erdbodenfläche bedecken würde. Bei Starkregen müssen Niederschläge von mehr als 5 mm in 5 min., > 7,1 mm in 10 min., > 10 mm in 20 min. oder > 17,1 mm in 60 min. fallen.

Neben der Kombination mehrerer Witterungseinflüsse, z. B. rasche Wechsel zwischen Frost- und Tauwetter in Verbindung mit Niederschlag, können auch die folgenden Umstände maßgeblich sein:

n Heiße Tage (Lufttemperatur ≥ 30°C),

n Lufttemperaturen über dem Erdboden,

n Bauteiltemperaturen,

n Frosteindringtiefen,

n Bodenfeuchte,

n Hochwasserereignisse oder

n Technisch bedingte Grenzwerte.

 

Was sind „Witterungseinflüsse“?

Witterungseinflüsse sind die bewerteten Auswirkungen bestimmter Witterungsumstände – hier auf den Bauablauf.

Zur Bestimmung der einzurechnenden Witterungseinflüsse ist die Definition der durch einen bestimmten Witterungsumstand hervorgerufenen Auswirkung auf einen konkreten Vorgang erforderlich. LANG hat diesbezüglich bereits 1988 die in der Tab. 3 dargestellten Minderleistungskennzahlen veröffentlicht, die seitdem unverändert publiziert und mittlerweile allgemein anerkannt werden (vgl. Vygen/Schubert/Lang, 2008, Rdn. 214). Bei entsprechender Dokumentation abweichender eigener Kennzahlen durch den AN können jedoch auch höhere Minderleistungssätze für die Ermittlung von Produktivitätsverlusten aufgrund der tatsächlichen Witterungsverhältnisse herangezogen werden, wenn diese bei der Angebotslegung konkret kalkulierten Minderleistungen dokumentiert sind.

 

Was heißt „normalerweise“?

Es ist nicht eindeutig geregelt, was unter dem Terminus „normalerweise“ zu verstehen ist, allenfalls, dass es sich dabei um langfristige Mittelwerte handeln soll. Rechtsanwalt und Autor Prof. Dr. Klaus Kapellmann spricht sich allgemein für einen „längeren Bewertungszeitraum“ aus und befürwortet einen Referenzzeitraum von 10 Jahren (Kapellmann/Messerschmitt, § 6 VOB/B, Rdn. 26).

Andreas Lang hingegen schlägt die Verwendung der so genannten Normalperiode von 30 Jahren vor und hat für wichtige Stationen die entsprechenden Mittelwerte für einen Normalwinter zusammengestellt (Vygen/Schubert/Lang, 2008, Rdn. 213). Die letzte vollständige Normalperiode umfasst allerdings nur die Jahre 1961 bis 1990, so dass aktuelle Klimaänderungen in diese Referenzwerte nicht einfließen. Da für die aktuelle Normalperiode bereits Werte über 19 Jahre vorliegen, können auch die gleitenden Mittelwerte der aktuellen Normalperiode verwendet werden.

Die Tab. 1 zeigt am Beispiel der Häufigkeit von Frost- und Eistagen in Berlin-Tempelhof, dass zwischen den einzelnen Mittelwerten zum Teil erhebliche Unterschiede bestehen. So wurden in den 30 Jahren der letzten Normalperiode von November bis März durchschnittlich 24 Eistage beobachtet, in der aktuellen Normalperiode hingegen insgesamt 18,7 Eistage und im gleitenden Mittel der letzten 10 Jahre insgesamt 18,6 Eistage. Da unklar ist, welche Mittelwerte als Referenzdaten einer Baustelle heranzuziehen sind, sollten bereits im Bauvertrag die für die Bauablaufplanung tatsächlich maßgeblichen Mittelwerte sowie eine Referenzklimastation festgelegt werden. Sollte eine derartige Regelung nicht möglich sein, wird die Verwendung des gleitenden Mittelwertes der derzeitigen Normalperiode seit 1991 vorgeschlagen, auf den sich auch die nachfolgenden Erläuterungen und Berechnungen beziehen.

Berücksichtigung der Soll-Witterung im Angebot

Grundlage der Berechnungen sind die statistisch für den Gesamtwinter, für einzelne Monate oder sogar Tage ermittelbaren Eintrittswahrscheinlichkeiten der maßgeblichen Witterungsumstände. Die Verwendung der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Witterungsumstandes in einer bestimmten Zeitperiode ermöglicht das Umrechnen der kalendarisch erfassten Wetterdaten auf Arbeitstage. Die Eintrittswahrscheinlichkeit wird dabei als Quotient z. B. aus der Anzahl der Eistage und der Anzahl der Kalendertage im selben Zeitraum gebildet. Tab. 2 zeigt die unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeiten für Frost- und Eistage in den Wintermonaten auf Grundlage des Zeitraums 1991 bis 2010 in Berlin.

Die Höhe der einzukalkulierenden Normalwitterung sollte dann durch Multiplikation der Dauern der in der Winterzeit liegenden Vorgänge mit den Eintrittswahrscheinlichkeiten störender Witterungsumstände sowie der Höhe erwarteter Produktivitätsverluste für diese Teilleistungen erfolgen.

Dem AN wird dabei empfohlen, die winterbedingt erwarteten Zuschläge anhand der normalen Ausführungsdauern der im Winter liegenden Vorgänge zu ermitteln, unter Berücksichtigung freier Pufferzeiten aufzuaddieren und in einem eigenen Vorgang am Ende des kritischen Weges unmittelbar vor dem Meilenstein „Gesamtfertigstellung“ (oder vor den ggf. vereinbarten Zwischenterminen) darzustellen. Durch die Bündelung der einzurechnenden Ausfallzeiten in einem eigenen Vorgang am Ende des Bauablaufplans wird erreicht, dass Vorgänge, bei denen sich das eingeplante Witterungsrisiko nicht realisiert, auch in der normalen Ausführungszeit realisiert werden – und nicht etwa in der aufgrund des einkalkulierten Risikozuschlags zu langen Soll-Ausführungszeit. Diese Vorgehensweise hat weiterhin den Vorteil, dass im späteren Termincontrolling die tatsächlichen Ausfalltage auf diesen Vorgang für Pufferzeit angerechnet und somit die noch verbleibende Pufferzeiten für einzukalkulierende witterungsbedingte Behinderungen immer aktuell kommuniziert werden können.

 

Tatsächliche Witterungsumstände

Die Ist-Wetterdaten sollten ebenso wie die Soll-Daten beim Deutschen Wetterdienst standardisiert für eine bestimmte Station abgerufen werden. Nur so ist sichergestellt, dass sowohl die Mittelwerte als auch die Wetterdaten auf übereinstimmender Grundlage ermittelt wurden. Damit scheidet die Verwendung der auf der Baustelle erfassten Wetterdaten meist aus, weil die Lufttemperatur in der Regel nicht als Minimum für jeden Kalendertag erfasst wird. Ist das Thermometer zudem am Baucontainer angebracht, führt die Wärmestrahlung zu einer Verfälschung der Messergebnisse. In der Folge werden bei Eigenmessungen fast immer zu wenige Frost- oder Eistage ermittelt.

In der Tab. 2 werden beispielhaft die tatsächlichen Witterungsverhältnisse für die Station Berlin-Tempelhof mit dem Mittelwert der aktuellen Normalperiode seit 1991 verglichen. Die der eigenen Auswertung zu Grunde liegenden Tageswerte sind beim Deutschen Wetterdienst online verfügbar (www.dwd.de, Datenabruf vom 26.04.2010, alles ohne Gewähr). Die Tabelle 2 zeigt in der letzten Summenspalte, dass von November 2009 bis März 2010 insgesamt 41 Eistage gemessen wurden, während im 19jährigen Mittel in Berlin-Tempelhof in diesem Zeitraum nur 18,7 Eistage beobachtet wurden.

 

Ermittlung der Fristverlängerung bei außergewöhnlicher Witterung

Sofern die VOB-gerecht eingerechneten Witterungseinflüsse auf einen ansonsten ungestörten Bauablauf überschritten werden, erhält der AN unter den Voraussetzungen von § 6 Nr. 1 VOB/B Fristverlängerung. Deren Ermittlung wird nachfolgend an einem Beispiel erläutert: Der Vorgang „Baustelleneinrichtung“ sollte auf einer Berliner Baustelle ursprünglich im Januar 2010 mit der Normaldauer von 10 Arbeitstagen (AT) ausgeführt werden. Bei Angebotslegung musste der AN gemäß Tab. 2 für den Januar von einer mittleren Eintrittswahrscheinlichkeit eines Frosttages in Höhe von 57,1 % und eines Eistages in Höhe von 25 % ausgehen. Im 19jährigen Mittel ist der Vorgang wahrscheinlich von 5,7 Frosttagen (57,1 % x 10 AT) betroffen. Davon sind im Mittel 2,5 Tage (25 % x 10 AT) Eistage mit Dauerfrost unter 0°C. Aus den Kennzahlen von Lang ergibt sich gemäß Tab. 3 bei der Baustelleneinrichtung im Freien (Einzelschutz) eine Minderleistung an Frosttagen in Höhe von 4 % (Tab. 3, vorletzte Spalte) und an Eistagen in Höhe von 8 % (letzte Spalte). Da jeder Eistag zugleich auch ein Frosttag ist, beträgt der zusätzliche Zuschlag für Eistage 4 % (4 % wurden bereits als Zuschlag für den Frosttag berücksichtigt). Der normalerweise einzurechnende Witterungseinfluss beträgt dann 0,23 Arbeitstage für Frosttage (10 AT x
57,1 % x 4 %) und weitere 0,1 Arbeitstage für Eistage (10 AT x 25 % x 4 %). Insgesamt musste der AN somit auf Grundlage der Kennzahlen von Lang für den Vorgang mindestens 0,33 AT für einzurechnende Witterungsverhältnisse berücksichtigen.

Tatsächlich traten im Januar 2010 gemäß Tab. 2 jedoch 31 Frost- (100 %) und 24 Eistage (77,4 %) auf. Aus den ursprünglichen Minderleistungsfaktoren folgen Witterungseinflüsse von 0,4 AT für Frost- (10 AT x 100 % x 4 %) und 0,31 AT für Eistage (10 AT x 77,4 % x 4 %). Insgesamt beträgt der winterbedingte Zuschlag auf die Normaldauer 0,71 AT (0,4 AT für Frost-, 0,31 AT für Eistage).

Im Ergebnis erhält der AN aufgrund der Überschreitung der normalerweise für den Januar zu erwartenden Witterungsumstände eine Fristverlängerung für den Vorgang Baustelleneinrichtung in Höhe von 0,38 Arbeitstagen (0,71 AT im Ist abzgl. 0,33 AT im Soll). Ob sich diese Verlängerung der Dauer eines konkreten Vorgangs auf die erwartete Gesamtfertigstellung auswirkt, wird anhand der ursprünglichen Anordnungsbeziehungen im Bauablaufplan beurteilt. Die Gesamtfristverlängerung bestimmt sich dann aus der Summe der kritischen Einzelfristverlängerungen aller betroffenen Vorgänge.

Selbstverständlich kann der AN zusätzlich auch weitere Witterungsumstände und höhere Minderleistungskennzahlen berücksichtigen. Wenn der AN z. B. bei Angebotslegung davon ausgegangen ist, dass an Eistagen für einen bestimmten Vorgang überhaupt keine Arbeiten durchgeführt werden können (Minderleistung = 100 %) und die Anzahl der Ausfalltage auch in seinem Bauablaufplan berücksichtigt hat, ist die Ausführungsdauer des konkret betroffenen Vorgangs für jeden zusätzlichen Eistag während der Ausführungszeit zu verlängern. Die monetären Auswirkungen außergewöhnlicher Witterungseinflüsse auf den ansonsten ungestörten Bauablauf müssen mangels Verschulden von den Bauvertragspartnern jedoch jeweils selbst getragen werden (vgl. Kapellmann/Messerschmitt, VOB Teile A und B, § 6 VOB/B, Rdn. 28).

 

Fazit

Prinzipiell führen witterungsbedingte Behinderungen zu keinen Ansprüchen des Auftragnehmers. Werden jedoch die normalerweise einzurechnenden Witterungsumstände überschritten, erhält der AN unter den Voraussetzungen von § 6 Nr. 1 VOB/B eine entsprechende Fristverlängerung.

Monetäre Ansprüche aus witterungsbedingten Behinderungen kann der Auftragnehmer jedoch nur dann erfolgreich geltend machen, wenn sich aufgrund von Bauablaufstörungen aus der Risikosphäre des AG Leistungen nunmehr in eine ungünstigere Jahreszeit verschieben und dadurch witterungsbedingte Behinderungen auftreten, die ursprünglich nicht oder nur in geringerem Umfang einzurechnen waren.

Dr.-Ing. Dipl.-Kfm. Thomas Heilfort ist Sachverständiger für Bauablaufstörungen und Lehrbeauftragter an der TU Dresden.

[www.heilfort.de]

Unter „normalerweise“ist normalerweise nicht immer das Gleiche zu verstehen!

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